Tanzen, um am Leben zu bleiben

Joy of Life, HAU (Foto: Armin Smailovic)


Dröhnende wummernde Technomusik hallt durch das HAU. Schon von der Straße ist sie nicht zu überhören. Drinnen im Saal kreist die Diskobeleuchtung minutenlang über die Zuschauerreihen. Dann endlich öffnet sich der Vorhang und Menschen in erstarrten Clubpositionen sind zu sehen. Die Drehbühne kreist mit ihnen. Wie mitten aus dem überbordernden Feierleben gerissen stehen sie da. Ab da wird die Musik sanfter, melodischer geigenlastiger und sphärischer. Denn sie befinden sich in anderen Gefilden.
In einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod sind die Menschen gelandet. Zwischen Engeln schweben sie auf einer Wolke. Zumindest in der Draufsicht. Wenn die Projektion auf den durchsichtigen Bühnenvorhang die Vogelperspektive einnimmt, ist dieses Himmelreich mit den sie umgebenden Wesen in seiner ganzen barocken Pracht zu erkennen. Dann werden die Menschen ein Bestandteil dieses Schwebezustandes. Aus dem Off hört man ihre Erinnerungen, ihre Wünsche, ihre Ängste, ihre Befürchtungen, allerdings von Kinderstimmen gesprochen. Gleichsam alterslos, noch im Kinderstadium und doch mit Erfahrungen, die Kinder zum Teil noch nicht haben können. Sie erzählen von Fluchterfahrungen, von Todesdrohungen, Albträumen, von der Klimakatastrophe, aber vom Tanzen und vom Surfen. Zweimal wird folgender Ausspruch fallen: „Das Erstbeste ist es nicht geboren zu werden. Das Zweitbeste früh zu sterben. Wer hat das gesagt? Nietzsche. Scheiß auf ihn!“
Man könnte den Abend für einen über Tod und Katastrophen halten, doch er ist eigentlich eines des Gegenteils. Er ist einer des Aufbegehrens gegen diese Bedrohungen des Lebens. Denn auch ein anderer Satz fällt zweimal: "Das Tanzen hat mich gerettet." So taumeln sie auf der Bühne, fallen, bleiben liegen, doch so stehen sie auch wieder auf und tanzen weiter.
Regisseur Ersan Mondtag geht es in seiner ersten Tanzperformance am HAU nicht um eine augefeilte Choreographie. Die gezeigten Szenen des sehr diversen Ensembles aus Älteren und Jüngeren, aus Weißen und Schwarzen, aus Laien und Profis, aus Schlanken und nicht so Schlanken, wirken eher so, als seien sie rein aus Improvisionen der Mitwirkenden entstanden und als hätte der Regisseur wenig eingegriffen. Tanzen als Mittel zum Am-Leben-Bleiben, sich seines Daseins zu vergewissern - das ist das Motto auf der Bühne. Solange die Menschen in Bewegung bleiben, sind sie am Leben.
In dem Wolkenreich werden Gebäude, Paläste und Säulen errichtet und ebenso schnell wieder abgebaut. Das geht hier ganz leicht, denn sie sind aus Stoff genäht und werden von der Bühnentechnik herabgelassen und wieder hochgefahren. So kann Vergänglichkeit aussehen.
Wenn die Performenden zu "Carmina Burana" als kleine Zwerge zum Kreistanz antreten, wird klar: Ein bisschen Spaß kann beim Überleben auch helfen. Dennoch liegen zum Schlussbild zwei bewegungslose Körper mit auf der Drehbühne, über die die Leichentücher ausgebreitet werden. Davon unberirrt drehen sich die anderen weiter. Sie finden zu Pas de deux zueinander, brechen wieder in Solos auseinander und tanzen dennoch immer weiter. Wenn sie aufhören, wird auch ihr Leben entweichen, ist zu befürchten. So tanzen sie weiter, bis das Licht ausgeht. Doch ziellos, die Kinderwünsche verhallen ungehört im Nirgendwo.

Birgit Schmalmack vom 29.6.21