Ganz unten angekommen



Mit strähnigen halblanger Nichtfrisur, Kassengestell, aufgeknöpftem Hemd und Unterhose liegt er auf seiner Matratze direkt auf dem Fußboden: Vernon Subutex (Joachim Meyerhoff). Einst war er eine Institution in Paris, in dessen Plattenladen „Revolver“ sich alle Musikinteressierten und aus dem Musikbusiness trafen. Verabreden braucht er sich nie, wer ihn sehen wollte, kam einfach im Geschäft vorbei. Doch dann kamen die Platten aus der Mode und die Geschäfte, in denen man sie erstand, wurden überflüssig. Zuerst konnte Vernon noch seine Restbestände an LPs und Fanartikel an alte Fans über Ebay verkaufen, durchaus mit größerem Gewinn als zuvor. Doch dann war sein materieller Besitz auf einen Mindeststand gesunken, der sich nicht weiter reduzieren ließ. Als dann ein alter Freund ihm anbot, seine Miete zu übernehmen, war die nächste Zeit erstmal gesichert. Doch als dieser stirbt und der Gerichtsvollzieher Vernons Tür aufbricht, steht er auf der Straße, nur mit einer alten Sporttasche unterm Arm. Ganz unten ist er angekommen. Ab sofort schläft er sich durch die unterschiedlichsten Pariser Sofas und Gästebetten. Seine Aneinanderreihung von Kurzaufenthalten wird zu einer Reise durch die Pariser Verhältnisse und gesellschaftlichen Abgründe.
Mit ihrer Romantrilogie landete Virginie Despentes in Frankreich einen Bestseller, der ganz nebenbei die gesellschaftlichen Zustände im heutigen Frankreich analysiert und unterhaltsam hinter die Kulissen blicken lässt. Regisseur Thomas Ostermann inszeniert den ersten Teil nun für die Schaubühne. Epische Breite erlaubt auch er sich: Vier Stunden dauert das Stück. Der Abend besteht größtenteils aus Monologen. So vereinsamt ist diese Gesellschaft. Auch wenn sich mal wieder zwei begegnen, scheinen sie nur die Selbstbestätigung im anderen zu suchen. Echte Dialoge gibt es im ganzen Stück kaum.
Vernon landet bei der Pornodarstellerin (), die seit dem Ende ihrer Filmkarriere zur Hate-Influencerin (Ruth Rosenfeld) geworden, die jeder Preis verlangen kann, um die Medienwelt wie gewünscht zu manipulieren. Beim Filmproduzenten, der stolz darauf ist, dass er seine Projekte streng nach Marktgesichtspunkte auslegt. Bei einer bis in die Haarspitzen verkünstelten Pariserin (Stephanie Eidt), die nach dem Auszug ihres Sohnes feststellt, dass der Gang zum Vigasisten, zum Friseur und zum Yogakurs kein Lebensinhalt ist, und sich auf Vernon stürzt. Bei einem Arbeiter (Thomas Bading), der offen über seine Gewalttätigkeit spricht, die ihm die Beziehung zu seiner Frau gekostet hat. "Früher wäre ich dafür als Held gefeiert worden", wundert er sich. Beim Börsenspekulant (Bastian Reiber), der seinen Hass auf den Abschaum am Rand der Gesellschaft freidrehen lässt, um nicht über die Gefahr des eigenen Abrutschens nachdenken zu müssen. Auch eine zum Islam konvertierte junge Frau (Hêvîn Tekin ) taucht auf, die nur durch ihren Glauben ihre Wut auf die verlogene Pariser Gesellschaft besänftigen kann, die den Kanaken volle Integration vorgaukelt, aber sie trotz Unidiplom aussperrt.
Waren die Monologe in der ersten Hälfte noch Egotrips am laufenden Meter ohne Tendenz zur Selbsthinterfragung, so folgen nach der Pause diejenigen mit mehr reflektierendem Charakter und mehr Mut zur Ehrlichkeit. Auch Vernon ist nun ganz bei sich angekommen. Nichts mehr gaukelt er vor. Hatte er vorher immer noch behauptet, gerade aus Kanada zurückgekommen zu sein, so kniet er jetzt auf seiner Pappe, die eine Hand zum Betteln nach vorne gestreckt. „Verzweiflung führt nicht zum Tod“, weiß er mittlerweile. Doch sein Fieberwahn ermöglicht ihm eine neue Form der Empathie. Erst in diesem Zustand kann er sich in die Menschen hineinversetzen, an denen er früher achtlos vorbeigelaufen ist.
Kluge Dramaturgie, pralle Schauspielerkunst und wach machende Musikeinlagen durch die Live-Band - das alles lässt bis um Mitternacht durchhalten. So darf man endlich wieder pralles Theater voller Geschichten in aller Opulenz auskosten. Es war keine Minute zu lang. Als wenn man einen großen Vorrat anlegen müsste für eine ungewisse Zukunft. Hoffentlich nicht…

Birgit Schmalmack vom 23.6.21