Mind the gap, Thalia



Ringelreihen der Chromosomen

Marys Mann ist vor fünf Jahren verstorben. Wenn sie ihn zu sehr vermisst, geht sie in die Londoner U-Bahn und lauscht der Lautsprecherdurchsage. Denn vor vielen Jahren sprach ihr Ehemann, ein Schauspieler, die Durchsage "Mind the gap" ein.
Mary sitzt auf einem der verrosteten Metallstühle und wartet auf den Moment, wenn die Stimme ihres Mannes lebendig wird. Als pensionierte Mikrobiologin findet sie für alle Geschehnisse Metaphern aus dem Leben der Zellen. So sieht sie eine Beziehung als Vereinahmung eines Bakteriums durch ein anderes. Doch die Zellteilung bewirkt, dass daraus stetig neue Zellen erwachsen, die ein Eigenleben entwickeln. Sex ist für sie eine existenzielle Grundvoraussetzung für das Leben, damit überhaupt Neues entstehen kann. Dass sich auch schlechte Gene weiter vererben können, sah sie an ihrem Sohn, der schwer autistisch war. Er war die Lücke, an der sich ihre Beziehung beweisen konnte. Er war die Herausforderung, der sie aus ihrem kleinzelligen Beziehungsgeflecht herausriss, da er sie vor neue Aufgaben stellte.
Aus dem umfangreichen Werk von Raoul Schrott "Epos Erde", in dem der österreichische Schriftsteller den Urgründen der Erdgeschichte mithilfe von Geschichten nachforscht, hat der Regisseur Matthias Günther den Monolog der Biologin herausgenommen und ihn im Lastenfahrstuhl des Thalia Theaters in Szene gesetzt. Vierzehn Zuschauer sind Zeuge des Selbstgespräches, das Mary (Marina Wandruszka) in dem engen, aber hohen, hohen Raum mit ihrem Mann führt.
Sie blickt nach oben zu dem gedachten Lautsprecher, sie wickelt sich den Trenchcoat um ihren Körper, sie gießt sich Tee ein, sie teilt mit den Zuschauer einen Apfel. Die imaginären Arztkittel streift sie jedoch nie ab. Mehr als ihr eigenes Leben reflektiert sie das Werden und Vergehen der Natur im Allgemeinen. Sie scheint privat und bleibt doch stets professionell. Die Trauer um ihren Mann verdeckt sie geschickt unter einer Flut an wissenschaftlichen Einordnungen, die ihr von Berufs wegen zur Verfügung stehen. Die Gefühlsausbrüche, von denen sie berichtet, erlebt man nicht. Trotz der engen Situation im Fahrstuhl entsteht keine Nähe zu den Zuschauern. Mary ist mit sich alleine. Die Zuschauer sind stumme Zuhörer. So ist man hier einer klug analysierenden Wissenschaftlerin, aber keiner einsamen, trauernden Frau begegnet, und verlässt das verwirrende Labyrinth des Thalia Hinterhauses seltsam unberührt.
Birgit Schmalmack vom 22.1.20