Das flüchtige Glück

Foto: Natalia Kabanow



Das Baby soll entscheiden, wie es zur Welt kommt. Das hat Maja ihrer ungeborenen Tochter versprochen. Also entscheidet sie sich mit ihrem Mann für eine Hausgeburt. Die Zuschauer:innen sind live und in Echtzeit dabei, wie die Zwischenräume zwischen den Wehen immer kürzer werden, wie der Vater heillos überfordert ist, wie eine Ersatzhebamme statt der eigentlich zur Tür hereinkommt, wie Maja dennoch nicht in Krankenhaus will, wie sie das Kind unter enormen Schmerzen zur Welt bringt, wie die Plazenta herausrutscht. Als Mutter und Vater sich endlich glückselig anstrahlen und alle Anstrengung vergessen scheint, . läuft das Baby plötzlich blau an. Die Hebamme versucht eine Herzmassage, der Vater ruft einen Krankenwagen. Doch zu spät: das Baby verstirbt. Dieser erste Teil des Theaterstückes von Regisseur Kornél Mundruczó und Autorin Kata Wéber ist auf der Bühne hyperrealistisch inszeniert und wirkt dennoch wie ein Film, weil er live in einem abgetrennten Bühnenraum gespielt und gefilmt wird und nur als Projektion zu sehen ist.
Dann im zweiten Teil wird die Elternwohnung von ihren Wänden befreit und zur Kulisse eines Familientreffens. Maja trifft sechs Monate später mit ihrem Mann auf ihre Mutter, ihre Schwester und deren Mann und eine entfernte Cousine. Ihre Mutter hat ihre eigene Agenda für diese Einladung. Sie will die Geschicke der Familie in die von ihr gewünschte Richtung lenken. Maja soll die Geburtshelferin verklagen, damit die Schuldfrage klären und die Schande einer Fehlgeburt und ihres unangemessenen Verhaltens abwenden. Sie will die Frage von Täter und Opfer eindeutig von einem Gericht klären lassen. Bei der Diskussion darüber brechen alte Konflikte auf. Die zweite Schwester sieht sich durch die Vorstreckung der Prozesskosten um ihren Teil des Erbes betrogen. Sie fühlt sich. wie eigentlich schon Zeit ihres Lebens, hinter der "Goldschwester" zurückgesetzt. Als Maja diesen juristischen Weg rundheraus ablehnt und auf ihrer eigenen Umgang mit ihrer Trauer besteht, besticht die Mutter ihren Mann, der unter einer Heroinabhängigkeit leidet, um ihn zum Verlassen der Tochter zu bewegen. Nicht ahnend dass diese bereits die Scheidung eingereicht hat, nimmt er hoch erfreut das Geldbündel und verschwindet. Als auch der Mann der Schwester abgezogen ist, bleiben die Frauen unter sich. Die Mutter setzt sich ans Klavier und stimmt den Song "Felicita" an. Die Mädchen fallen ein und genießen miteinander sich an glückliche Tage erinnernd einen Moment der Gemeinsamkeit.
In all dem Schmerz, den die Desillusionierung durch die Realität beschert, wird klar, dass das Lebensglück von einem Moment auf den anderen entschwinden kann. Familienglück zu erschaffen und zu erhalten erweist sich als harte Arbeit. Gerade wenn das Unglück einbricht in das traute Heim, sind die Menschen oft nicht dazu in der Lage sich Trost und Stütze zu sein. All ihr Frust und ihre Enttäuschungen brechen sich Bahn und treffen genau auf die Menschen, die ihnen am nächsten stehen. Erst wenn jemand wie Maja dazu in der Lage ist, sich dieser Trauer zu stellen, sie direkt anzugehen und nicht unter den Teppich zu kehren, kann die Möglichkeit zu einer Chance auf neues Glück entstehen.
Dieses Stück als Gastspiel des polnischen TR Warszawa ist etwas Besonderes auf deutschen Theaterbühnen. So naturalistisches Theater sieht man hier selten. Die Zeit der Menschen auf der Bühne wird zu der Zeit der Menschen vor der Bühne. Sie wird direkt und unmittelbar geteilt. Das ist durchaus herausfordernd. Dank der herausragenden Schauspielrinnen allen voran der Hauptdarstellerin Justyna Wasilewska geht dieses Konzept auf. Eindrucksvoll, ausdruckstark, vereinnahmend und mitnehmend ist dieser Abend und tief bewegt verlässt man das Theater.
Birgit Schmalmack vom 14.11.21