Sentimentaler Heimatabend

Mittagsstunde, Thalia Foto: Armin Smailovic



Wider Willen ist Ingwer zu einer Hitparade auf zwei Beinen geworden. Seine Mutter hat ihm als Ersatz für eine Gutenachtgeschichte immer eine Kassette mit dem Mix aus selbst aufgenommenen Schlagern eingelegt. Immer fehlten die ersten Takte und das Ende wurde von der Abmoderation des Ansagers überlagert. So weit bzw. so klein der Einfluss seiner Mutter. Umso größer der seiner Großeltern, von denen er lange dachte, dass sie seine wahren Eltern seien. Sein Opa tat alles, damit er ein richtiger Junge wurde. Er nahm ihn mit auf die Jagd, stellte ihn hinter dem Tresen auf eine Bierkiste, damit er an den Zapfhahn kam und versuchte ihn zu einem würdigen Mitglied von Brinkebüll zu machen. Dieses Dorf liegt an der Nordseeküste und trotzt seit Jahrhunderten Wind und Wetter. Mit ihm die Menschen, die sich hier niedergelassen haben.
Wortkarg, abgehärtet, der Dorfgemeinschaft verpflichtet und mit klaren Vorstellungen über das Leben. Dieser Landstrich erlaubt nicht viele Freiheit des Ausprobierens. Wo die Knicks als natürlich schiefe Entwässerungsgräben die Landschaft bestimmten und damit auch die Größe der Felder, hat in den Siebzigern die Flurbereinigung für eine durchgreifende Veränderung gesorgt. Nicht nur dass Ingwer ein Resultat dieser Arbeit ist- sein entschwundener Vater war einer dieser Landvermesser, sondern die Begradigung der Straßen und Gräben sorgte für eine Zerstörung alter Strukturen und damit für eine Entvölkerung der Dörfer. Die Läden verschwanden, die nun leicht zu erreichenden Supermärkte in den nächst größeren Städten waren so viel günstiger. Auch Ingwer zog es fort. Zum Gymnasium, zum Studium und zur Unistelle. Nun ist er fast 50, also eigentlich 43, und ist für einige Zeit zurückgekommen. Seine Großeltern sind pflegebedürftig und seiner schon immer sehr merkwürdige Mutter fällt als Betreuungsperson aus. Er hat das Gefühl etwas gut machen zu müssen.
Doris Hansen hat mit ihrem Riesenerfolgsroman "Mittagstunde" die Veränderungen eines Dorflebens aus der Innenperspektive beschrieben. Denn sie ist genau in so einem aufgewachsen. Weil die Regisseurin Anna-Sophie Mahler mit Thomas Niehaus einen perfekten Hauptdarsteller für diesen orientierungslosen, drögen und liebenswerten, großen Jungen gefunden hat, der aus seiner Spätpubertät direkt in die Midlifecrisis hineingeglitten ist, klappt das auf der Bühne des Thalia ziemlich gut. Niehaus ist das Zentrum der Aufführung. Er singt, spielt und musiziert das Stück durch den Abend. Er verkörpert der suchenden Ingwer in jeder Sekunde äußert glaubwürdig. Doch auch alle Figuren auf der fast leeren Bühne, die nur mit abgeholzten Baumstämme und einem riesigen Eichen-Tresenaltar bestückt ist, sind exzellent. Christiane von Poelnitz als zunächst zupackende und dann trottelig demente Oma, Bernd Grawert als granteliger Opa, Catherine Seifert als naive nach Schlagern verrückte Marrit, Tilo Werner als wertkonservativer Dorfschullehrer und schließlich Björn Meyer als früherer Dösbaddel und jetziger Line-Dance-Lehrer, der der Kneipe neues Leben einhaucht.
Ingwer hat zu allem, was sein Großvater ihm anbot, Nein gesagt. Aber zu was hat er eigentlich Ja gesagt? Das fragt er sich mittlerweile immer öfter. Er wohnt immer noch in seiner WG mit seinen zwei halben Beziehungen zu seinen Mitbewohnern. Doch ist ihm das genug? Wünscht er sich nicht eigentlich eine feste Basis? So wie es einst Brinkebüll war? Zum Schluss wird er wieder zurück nach Kiel gehen. Er stellt fest: Dieses Land braucht uns Menschen nicht. Aber vielleicht wir dieses Land?
So einen nostalgischen Heimat-Abend hätte man nicht unbedingt im Thalia erwartet. Brauchen wir ihn etwa in dieser Zeit?
Birgit Schmalmack vom 18.1.22