Bloß kein Opfer sein

nichts was uns passiert, Thalia Foto: Fabian Hammerl


"Ich bin kein Opfer, das klingt so passiv." Nein, Anna (Oda Thormeyer) ist eine junge energiegeladene, sogar ein wenig verrückte Person. So empfindet es jedenfalls Jonas (Merlin Sandmeyer), als er sie an der Uni in Leipzig kennen lernt. Beide Geisteswissenschaftler, er ein junger Doktorand und sie gerade mit dem Studium fertig. Als sie ihren ersten Abend plaudernd miteinander verbringen und sich nicht miteinander langweilen, wie zuerst befürchtet, geht sie noch mit zu ihm. Seine Frage nach einer Kondombenutzung wertet sie als Konsensherstellung, die sie mit ja beantwortet. One Night Stands sind eigentlich seine Sache nicht, sie dagegen spürt ihrem Körperbewusstsein gerne mit verschiedenen Männern nach. Als sie sich erneut treffen, blockt er weitere Treffen ab: "Noch nicht bereit für eine Beziehung." Sie dagegen will nur eine nette Affäre. Unverständnis auf beiden Seiten.
Auf einer nächsten Party versuchen sie sich zunächst gegenseitig zu ignorieren. Doch dann sind sie beide betrunken und die Fete ansonsten öde genug, dass sie beide zu ihr nach Hause gehen. Trotz etlicher Filmrisse wird ihr am nächsten Morgen klar, dass er ihre Wehrlosigkeit wohl ausgenutzt hat. Doch erst als sie das Wort Vergewaltigung googelt, wird diese Beschreibung zur Realität. Um sich dagegen zur Wehr zu setzen, erstattet sie Anzeige.
Ab da ist sowohl für ihn wie für sie nichts mehr so wie zuvor. Jeder in Leipzig scheint ab jetzt eine vorgefertigte Meinung zu diesem Fall zu haben. Die einen bieten Anna ungefragt Solidarität und Unterstützung an, die anderen kündigen Joans die Freundschaft auf. Jonas ist jetzt der Vergewaltiger und Anna das Opfer. Dass er die Sache völlig anders wahrgenommen hat, scheint niemanden zu interessieren. An ein Nein ihrerseits kann er sich nicht erinnern.
Regisseurin Simone Geyer lässt die Sachlage - anders als im der Theaterfassung zugrunde liegenden Roman von Bettina Wilpert - bewusst in der Schwebe. Sie zeichnet die beiden Charaktere beide gleichermaßen sympathisch. Hier gibt es keine klaren Opfer und Täter. Das macht den Abend in der Gaußstraße so interessant. Geyer überlässt den Zuschauer:innen in ihrer prägnanten, temporeichen und stimmungsvollen Inszenierung bewusst, sich selbst ein Urteil zu machen.
Birgit Schmalmack vom 14.2.22