Abgestumpft

Onkel Wanja, Thalia Foto: Krafft-Angerer



Hier stehen Männer auf der Bühne: Männer mit Idealen, Männer ohne Ideale und Männer mit Allüren. Um sie herum Frauen, die von ihnen abhängig, ihnen ergeben sind oder sie anhimmeln. Regisseur Hakan Savaş Mican belässt diese Konstellationen in seinem aktualisierten Fassung von Tschechows "Onkel Wanja" genau so. Er verfällt nicht der gerade ziemlich en voguen Vorstellung, dass schon wenn man die Rollen genderverkehrt besetzt, werde ein Stück zeitgemäßer und spannender. Denn dieser Onkel Wanja, ein Klassiker der Theaterdramatik, funktioniert auch so hervorragend. Es geht um die immer aktuellen herausfordernden Veränderungen in der Gesellschaft und der Natur, die den Menschen statt zum Handeln zum lethargischen Nichtstun bewegen. Tschechow demonstriert eindrücklich warum. Es geht ihnen immer nur um ihr kleines überschaubares Glück oder was sie dafür halten, nie um die hehren großen gesellschafts-politischen Ziele.
So verliebt der Mann mit Idealen, Astrov (Felix Knopp), in die schöne Besucherin (Anna Blomeier) auf dem Hof, die aus der Großstadt plötzlich mit ihrem Ehemann (Oliver Mallison) eingefallen ist, weil das Leben dort zu teuer geworden ist. So vergisst Onkel Wanja (Stefan Stern), der Mann ohne Ideale, seine Arbeit auf dem Hof, und hofft nun auf eine späte Liebe mit dieser schönen Großstädterin. So denkt deren Ehemann, der Mann mit den Allüren, nur daran das Gut zu verkaufen und alle Bewohner obdach- und arbeitslos zu machen, einzig um sein großspurigen Lebensstil zu sichern. Dass dabei die Wälder auch in dieser ziemlich idyllischen Landstrich immer weiter abgeholzt und damit der menschliche Gier ihre Spuren hinterlässt, rückt das Stück sehr nah an die Gegenwart heran und zeigt, dass es keine gewollte Aktualisierung nötig hat.
Nebenbei Mican zieht hier andere Meta-Ebenen ein. Bevor die Schauspieler:innen auf der Bühne ankommen, die mit einigen unverbunden herumstehenden Kulissenwänden bestückt ist, werden sie mit Live-Kameras über die Flure des Thalia in der Gaußstraße und in ihre Garderoben verfolgt. Kleine Aufwärmjokes werden zwischen ihnen hin- und hergeworfen. Klar sind sie als Darsteller:innen zu erkennen, die hier in Rollen schlüpfen. Doch kaum sind sie auf der Bühne gelandet, verwandeln sie sich wie von Zauberhand in die Charaktere, die sie hier darstellen. Sie tauchen komplett in ihre Rollen ein. Erst beim Schlussapplaus streifen sie diese blitzschnell wie Kostüme wieder ab.
Streifen wir als Zuschauer:innen ebenso schnell ihre berührenden Geschichten, die sie uns erzählen, wieder ab, wenn wir nach draußen gehen? Genau so schnell wie die Schicksale, die uns heute in den Nachrichten schockieren? Führt dieses Konsumieren von fremden Schicksalen und dieses kurzfristige Berührtsein gerade zu der Abstumpfung, die in die Lethargie und ins Nichtstun mündet? Darüber könnte man angesichts der aktuellen geopolitischen Lage mit Micans Inszenierung unversehens ins Grübeln geraten.
Birgit Schmalmack vom 10.3.22