Im fluiden Zwischenreich



Yannis und Fidan stehen am Krankenbett ihrer Tochter. Nil liegt im Koma. Wie konnte das passieren? Sind sie schuld an ihrem Zustand? So vieles blieb ungesagt. Vielleicht können der Chefarzt, ein exzentrischer Halbgott in Weiß, oder Nils Ex-Freundin Nora zur Klärung beitragen?
Nil (Rana Farahani) scheint sich eine Auszeit genommen zu haben. Während ihr Körper in einem Krankenhausbett liegt, ist ihr Geist an einem einsamen Bahnhof gestrandet. Hier begegnet sie Personen aus ihrer Vergangenheit. Denn sie steht an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens. Will sie endlich zu ihrer Andersartigkeit stehen? Bisher hat sie eher den leichteren Weg gewählt und sich dieser Auseinandersetzung nicht gestellt. In ihren Bahnhofsbegegnungen machen ihr nun ein Freund, ihr Großvater und ihre Kunstlehrerin klar, dass sie so nicht weiterkommen wird. Währenddessen streiten sich ihre Eltern, die schon lange getrennt leben, leidenschaftlich um die Schuldfrage und schieben sich die Verantwortung für den Zusammenbruch ihrer Tochter hin und her.
Diese verschachtelte Erzählstruktur macht es den Zuschauer:innen im Ernst Deutsch Theater nicht ganz einfach, dem Geschehen auf der Dreh-Bühne zu folgen. Zusätzlich hat sich der Regisseur Mohammad-Ali Behboudi entscheiden, die Handlungsebene im Krankenhaus mit kabarettistischen Einlagen und überzogenen Interpretationen der Rollen anzureichern. Der Chefarzt ist Mann, der sich als hochtoupierte Blondine stylt, die Ex-Eheleute sind exaltierte Karikaturen einer Türkin und eines Griechen, die Krankenschwester eine stumme Figur wie aus einem Science Fiction Film. In dieser Konstellation ist es schwierig den Rollen eine ernsthafte Bodenhaftung zu geben. Das gelingt Oliver Warsitz als Chefarzt dennoch mit Bravour. Tolle Leistung.
Die Metaebene auf dem Bahnhof ist dazu im Kontrast angelegt. Im Reich der Fantasie angesiedet sind die Figuren hier realistischer angelegt und dürfen mehr in die Tiefe gehen. Ganz besonders gut gelingt das in den Szenen mit dem Großvater (Vedat Erincin).
Mutig und trendsicher zeigte sich das ETD in seiner Eröffnungspremiere. Kaum eine Figur kommt ohne genderfluide Merkmale aus. Das durchweg etwas angegraute Publikum stellte sich aufgeschlossen diesen inhaltlichen und darstellerischen Herausforderungen. Und belohnte die letztendlich interessante Arbeit mit lang anhaltenden Applaus.
Birgit Schmalmack vom 14.8.21