Am Rand, Kammerspiele

Am Rand, Kammerspiele Foto: Bo Lahola

Das Schengen-Dings

"Ich bring dich nach Paris", verspricht Azad (Evangelos Sargantzo). seiner Freundin Tamar (Milena Straube). "Ich weiß", antwortet sie wenig überzeugt. Sie würde ihm ja gerne glauben, dass er sie aus dem Slum neben der Müllhalde, in dem sie beide aufgewachsen sind, fortbringt. In das Land, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kennt und wo die Frauen "Oh, la, la" sagen. Zum Schluss wird sie in Paris sein und doch wieder ganz am Rand leben, wie schon in ihrem Heimatland. Denn sie und ihr Freund sind als Illegale ohne Aufenthaltspapiere und ohne festen Wohnsitz am Rand von Paris gelandet. Wieder leben sie jenseits des Rings, der sie in sicherer Entfernung zum Leben der Reicheren hält.
Autorin Sedef Ecer hat mit ihrem zu Herzen gehenden Stück "Am Rand" die Geschichten von Menschen nachgezeichnet, die durch ihren Geburtsort zu einer Existenz am Rand der Gesellschaft verurteilt sind,. Da sind einmal Dilcha und Bilo (Taneshia Abt und Patrick Abozen) und Kybélée (Melek Erenay), die Eltern von Tamar und Azad. Assads Mutter ist eine "Romahexe", die selbst noch im Slum ausgegrenzt wird. Sie darf keinen Kontakt mit den übrigen Slumbewohnern haben. Azads Mutter hält sich nicht daran und wird dafür von den anderen Slumbewohnern verachtet. Bei einer Räumung des Slums durch die Armee sterben beide Eltern, als sie sich den Truppen in den Weg stellen. Mittlerweile hat das Slumviertel nämlich durch den Bau einer Chemiefabrik an Wert gewonnen und soll nun besser verdienenden Schichten Platz machen. Die Slumbewohner nahm man gerne als billige ungelernte Arbeitskräfte in Kauf, aber nachdem sie nun krank geworden sind, will man sie aussortieren. Die Kinder Azad und Tamar wurden im Cafe des Viertels von allen gemeinsam aufgezogen. Doch nun wollen mehr vom Leben und raus aus dem Slum. Während Azad dabei eher auf seine eigene Kraft setzt, glaubt Tamar an die Versprechungen der "Sultane aus der Vorstadt" (Natascha Clasing), die mit ihrer Fernsehshow "Miracle" den armen Hoffnungslosen Träume gibt und scheinbar erfüllt.
Wie ein Fernsehstudio ist auch die Bühne gestaltet. Lauter Scheinwerfer setzen das Leben der Slumbewohner für die Außenwelt in Szene. Auch sie haben nur ihre Fantasie und ihre Träume. Sie leben auf verschiedenen Ebenen und begegnen sich nicht. Die vergangene Elternebene liegt hinten, während die Kinder ganz in der Gegenwart vorne am Bühnenrand spielen. Sultane bleibt mit ihrer Kunstwelt hinter einem transparent scheinenden Vorhang und platzt nur zeitweise mit ihren inszenierten "Miracles" in das Leben der anderen.
Diese Bühnenaufteilung führt zu einer eher statischen Spielweise, die den Aktionsraum für die Darsteller - passend zu ihren tatsächlichen engen Lebensraum - begrenzt. Die Schauspieler adressieren ihre Erzählung frontal zum Publikum, interaktive Spielszenen gibt es selten. Dennoch schaffen es die durchweg guten Schauspieler ganz ohne Regiemätzchen (Regie: Hansgünther Heyme) für ihre Lebensgeschichten zu interessieren, zu berühren und gefangen zu nehmen. Ein Stück, dem man aufgrund der aktuellen Thematik möglichst viele Zuschauer wünscht, denn es zeigt Zusammenhänge des globalisierten Kapitalismus, die für viele Schwellenländer symptomatisch sind. Nach diesem Theaterbesuch fällt es deutlich schwerer Flüchtlingen, die "nur" aus wirtschaftlichen Gründen in den Schengenraum fliehen, ihr Recht auf ein besseres Leben abzusprechen.
Birgit Schmalmack vom 16.1.17