Schlaraffenland, Kammerspiele

Schlaraffenland an den Kammerspielen (Foto: Anatol Kotte)

Hinter der Wand aus Brei

Eines Tages blickt der Sohn (Jacob Matschenz) hinter die Wand. Er erkennt, woher all die schönen Dinge, die ihm bisher in seiner wohlhabenden Familie einfach so zuflogen, kommen. Wer dafür schuftet, dass der Konsum und die Dienstleistungen funktionieren. Er sieht, woher die Smartphones, die Playstations, die Autos, die Kaffeespezialitäten und all die anderen Konsumgüter, die sein Leben bisher so angenehm gemacht haben, stammen. Er sieht das Heer an Billiglöhner, die rund um die Welt für ihn und seinesgleichen arbeiten, für Beträge, die für ihn lächerlich so billig sind, dass er sich immer mehr von ihnen leisten kann. Ihm wird klar, dass all das angefutterte Fett die Reichen so träge gemacht hat, dass sie sich hinter Wänden aus Brei verschanzt hat. Er fordert fortan die Erweckung für alle!
Doch er scheitert schon an seiner Familie (Thomas Klees, Isabell Fischer, Hanna Stange, Oliver Warsitz), die sich so gemütlich in ihrem Wohlstand eingerichtet hat, dass sie ihn nur zum Idioten erklären kann, der dringend einer Behandlung bedarf. So will er zum Äußersten greifen. In dem alles aufsaugenden Liberalismus dieser westlichen Welt will er ein wirkungsvolles Zeichen setzen, etwas was sich einbrennt ins Gedächtnis. Er benutzt die Mittel, die er für zurzeit am wirkungsvollsten hält: die Mittel der extremistischen Terroristen; er schnallt sich einen Sprengstoffgürtel um.
Bis zum Erweckungserlebnis des Sohnes, das heißt bis fast zur Pause, wird das Wohlleben des Sohnes in seiner komfortablen Bürgerlichkeit wie in einem comichaften Bilderstrip ausgebreitet, von seiner wohlbehüteten Kindheit bis zum Aufstieg als erfolgsverwöhnter Musiker und Produzent. Das ist so witzig wie vorhersehbar. Mit vielen netten Einfällen, schnellen Rollenwechseln, lustigen Verkleidungen und witzigen Requisiten reichert Regisseur Henning Bock diesen Teil geschickt an. Richtig spannend wird es aber erst danach. Was wie eine lockere Nummerfolge beginnt, wird dann zu einem hochpolitischen Lehrstück über die irrsinnige Selbstzufriedenheit des westlichen Lebensstils, den anscheinend nichts mehr aus seiner Lethargie zu rütteln vermag. Der Sohn durchbricht die vierte Wand und hält seine lange Erweckungspredigt an die Zuschauer.
Doch der Zeitzünder des Sprengstoffgürtel entpuppt am Ende von Philipp Löhles Stück „Schlaraffenland“ selbst im Stück nur als Attrappe. Der Autor entscheidet sich seinem Text einen ironisierenden Rahmen zu geben, indem er den Vater zum Schluss Lügengeschichten erzählen lässt, in denen der Sohn einfach die Rolle eines Spinners bekommt. Wieder einmal hat es also die Gesellschaft wunderbar verstanden, die Aufruhr eines Aufbegehrenden in Nichts laufen zu lassen.
Das Stück zerfällt dramaturgisch in zwei Hälften, in eine lange Hinführungsphase und in eine emphatische Aufklärungsphase, die Regisseur Bock nicht umsonst mit einem Hammer in der Hand des Aufklärers einleitet. Bock hat recht: Löhle will vermeintlich Aufklärung und politische Diskussion mit der maximalen Aufmerksamkeit erreichen, doch leider um am Schluss die Leute mit einem beruhigenden „Alles nur ein Scherz!“ aus dem Theater gehen zu lassen.
Birgit Schmalmack vom 24.10.17

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