Ein kurzer Besuch

Das Publikum wird anlässlich des Neujahrsfestes in ein chinesisches Dorf eingeladen. Verschiedene Räume sind in der Kampnagelhalle aufgebaut. Eine Teestube, eine Arztpraxis, ein Studierzimmer und eine Obdachlosenunterkunft und ein Altarraum. Das hochherrschaftliche Haus der reichsten Familie im Dorf steht zwar in der Mitte, entfaltet sich erst im Laufe des Abends zu voller Größe. Es ist ein aufblasbarer löwenköpfiger Palast im Stile einer Hüpfburg.
Die einzelnen Schicksale der Dorfbewohner, die hier angerissen werden, bedürfen allerdings der Erklärung, um sie halbwegs zu verstehen. Daher spricht die Dramaturgin Mascha Luttmann vor Betreten ein paar erklärende Worte. In seiner Abschluss-Inszenierung hat der Jungregisseur Yida Guo mehrere Erzählungen des chinesischen Autors Lu Xun zu einem Mosaik verdichtet. Doch das Einfühlen in die Individuen, die Lu Xun in einer konfuzianisch geformten Gesellschaft des 19.Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner Literatur stellen wollte, fällt in dieser Form ziemlich schwer. Denn sie kommen alle eher als Karikaturen ihrer selbst daher und scheinen eher Klischees darzustellen als lebendige Charaktere, die man verstehen lernt. Denn ihre Geschichten werden nicht aus ihren Gedanken und Gefühlen heraus sondern anhand ihrer lautstarken Aktionen gezeigt.
Doch es gibt auch in dieser Gemengelage die leisen Figuren. Die lohnen das Aufspüren und Nachlauschen. Da ist ein Mann mit einem Koffer, der in seinem mit Papier ausgestopften Mantel daherschlurft und keinen Platz in dieser Gemeinschaft beanspruchen darf. Da ist der stille Junge (Yaodong Lu), der mit seiner Puppe als einzigem Geführten zaghaft versucht den Kontakt mit den Zuschauer:innen aufzunehmen. Diese Außenseiter werden zu stillen scheuen Verbündeten der Besucher:innen, die dieser lauten grellbunten Dorfgemeinschaft, die streng hierarchisch strukturiert ist, bis zum Schluss ihres Besuchs staunend, amüsiert, fragend und voller Unverständnis gegenüber steht.
Birgit Schmalmack vom 22.2.22