Testung unser Opferbereitschaft

Kalte Kartoffeln Kampnagel


Was bringt einen Menschen dazu, sein Leben dafür zu opfern, dass die Ernährung seiner Landsleute in Zukunft möglich bleibt? Eine akute Notsituation im eigenen Land bewegte einen Agrarwissenschaftler 1941 in der Ukraine eine Saatgutbank zu erstellen, um unter Lebensgefahr das beste und am schnellsten wachsende Saatgut für die Zukunft seines Landes zu sichern. Die Sowjetunion hatte sich damals vorgenommen, die Ukrainer:innen durch einen drohenden Hungertod dazu zu zwingen ihre Landwirtschaft für die sowjetischen wirtschaftlichen Zwecken zu unterjochen. Um den Initiator dieser Mission Vavilov zu verstehen, entschließen sich zwei junge Leute (Nils van der Horst, Leonie Stäblein) im Jahre 2022 ein Experiment zu wagen: Sie schließen ihre Vorräte in ihrer Speisekammer ein und beginnen einen Selbsterfahrungstrip. Während Dulian nun fortwährend unter Pommesträumen und Antrieblosigkeit leidet, sprüht seine Freundin Kesa über vor Energie und Erkenntnisdrang. Die Stimme von Vavilov aus der Vergangenheit spornt sie dabei zusätzlich an. Unermüdlich dreht sie ihre Runden zwischen den hochgestapelten Vorratskisten, die an Plattenbausiedlungen erinnern. Schließlich wurden die Menschen in der Sowjetunion wie die verschiebbare Masse von Vorräten in stapelbaren Kästen untergebracht. Als zwei mögliche Mutterkartoffeln (Marie Schulte-Werning, Carlotta Aenne Bauer) ihren Auftritt haben, kommt plötzlich Komik mit ins Spiel. Schließlich sollte man auch die emotionale Lage des Saatgutes nicht vernachlässigen. Schließlich kommt auch ihm eine Verantwortung zu, die plötzlich schwer auf den Kartoffelschultern lastet. Doch schnell bricht wieder die Realität in die gewollt witzige Szenerie: Denn diese Zeiten sind keineswegs vorbei. Russland treibt ukrainische Städte auch 2022 in den Versorgungsnotstand, um das Land wieder heim ins Reich zu holen. Die beiden Kartoffelinnen werden ernst und schildern die neusten Nachrichten der Gegenwart.
Charlotte Heße hat sich für ihre Abschlussinszenierung an der Theaterkakademie direkt von den aktuellen Ereignissen inspirieren lassen. Zusammen mit der Autorin Elisabeth Pape hat sie einen Text entwickelt, der historische Ereignisse mit dem Heute verknüpft. Geschickt versteht sie es mit ihrem hervorragenden Team die traurigen Umstände zu einem spannenden und abwechslungsreichen Theaterabend werden zu lassen. Das eindrucksvolle Bühnenbild (Anna Satu Kaunisto) ist dabei eines der Highlights. Mit den orangeroten Kunststoffkisten, die bis zur Decke gestapelt sind, lassen Fantasie anregende Bilder produzieren, die viele Assoziationen möglich machen. Mutig greift Heße die politische Situation auf und holt sie dicht an die heutig Erfahrungswelt heran. Als sich im letzten Drittel die Stimme des ukrainischen Schauspielers Maksym Panchenko mit seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Krieg einschaltet, ist die Vergangenheit, die uns nicht mehr zu betreffen scheint, endgültig zur Gegenwart geworden.
Dass die Erkenntnisse von Dulian und Kesa trotz ernsthaften Bemühens dürftig bleiben, liegt in der Natur der Sache. Hineinfühlen in die Situation der Ukrainer:innen muss scheitern. Das spiegelt sich jeden Tag in den Beschlüssen, zu denen der Westen sich durchringen mag, durch.
Birgit Schmalmack vom 4.4.22