Gewaltbereitschaft in jeder Geste

New Creation, Kampnagel Foto: Wonge Bergmann


Wie kleine aber unkoordinierte Ameisen sind die Tänzer:innen auf der Bühne unterwegs. Lauter versprengte Einzelwesen ohne größere Zusammenhänge. Nur schlaglichtartig sehen wir ihre kurzen Begegnungen. Verstörend rätselhaft bleiben sie. Ruckartig sind ihre Bewegungen. Kontakt oder sogar Kommunikation findet nicht statt, und wenn nur harsch und abrupt, fast gewalttätig. Dazu eine Tonspur , die aus Alltagsgeräuschen besteht und schlagartig abbricht, genauso wie die Szenen.
Im Laufe des Abends, den der Choreograph Bruno Beltrão schlicht "New Creation" nennt, werden die Szenen länger und dir Soundtrack mit schnellen Trommelschlägen angefeuert. Immer klarer stechen die Haltungen der Menschen auf der Bühne ins Auge: Wehrhaft müssen sie auftreten, zu jeder Zeit ihre potenzielle Gewaltbereitschaft Ausdruck verleihen, um hier bestehen zu können. Auch die zwei Frauen unter ihnen fahren immer wieder ihre Ellbogen aus.
Die neue Arbeit von Beltrão erfordert ein genaues Hingucken und sich Einlassen auf die Körpersprache der Tänzerinnen auch in den winzigen Details, die in den fein ausgearbeiteten Fastbegegnungen aufeinander abgestimmt sind. Hier gibt es keine Pas de deux der herkömmlichen Art. Wenn zwei eher zufällig aufeinander treffen, geht es eher darum sich nicht zu berühren. Sondern wie im Alltag auf der Straße sich von ferne klare warnende Botschaften zu senden, um jede direkte Konfrontation zu vermeiden. Denn sie könnte sofort zu einer Eskalation führen. Eine bedrohliche Atmosphäre liegt über dem Ganzen. Jederzeit könnte die Stimmung kippen. Jede Vertrautheit unter den Menschen scheint weggebrochen zu sein. Jeder ist nur sich selbst der nächste.
Damit bezieht sich Beltrão direkt auf die Stimmung in seinem Heimatland Brasilien, seitdem der Präsident Balsorano für einen Rechtsruck gesorgt hat. Dennoch braucht es eine große Aufmerksamkeitsspanne, um dies alles in seiner neusten Arbeit zu dechiffrieren. Überwältigende Gruppenchoreographien mit eingängigen tänzerischen Eindeutigkeiten sucht man vergeblich. Doch wenn man sich einlassen kann, muss man konstatieren: Hier hat ein wahrhafter großer Tanz-Künstler die Bewegungssprache des HipHop so mit dem zeitgenössischen Tanz verbunden und weiterentwickelt, wie man es noch nie gesehen hat. Nachdem man dies pünktlich zum Ende der einstündigen Performance endlich verstanden hat, möchte man sich das Stück gleich noch einmal ansehen, um dann eventuell alles entschlüsseln zu können.
Birgit Schmalmack vom 11.5.22