Wer ist Heimat?

Ein Mann namens Heimat macht sich auf den Weg. Er geht zu einem Zirkusdirektor und bietet seine Dienste an: „Brauchen Sie jemanden, der fliegen kann?“ Das so oft er auch fragt, immer ist die Antwort Nein. Und der Mann namens Heimat geht weiter.

Genau so ruhelos wandert der Performer Caglar Yigitogullari in „HeimatLost." von einem weißen Quadrat, das auf den Fußboden gezeichnet ist, zum nächsten. Immer nur kurz ist sein Aufenthalt im nächsten Raum auf der Bühne. Er ist der Mann, der seiner Heimat den Rücken gekehrt hat und seitdem heimatlos geworden ist. Wenn er seine Flugkünste anbietet, krümmt er sich wie ein kleiner Gaukler zusammen und blickt von unten herauf ins Licht. Wie jemand, der fliegen könnte, wirkt er daher nicht. Eher wie vom Leben auf den Boden gedrückt. Denn seine Fähigkeiten werden nicht gesehen, so macht er sich klein, wird er immer niedergedrückter durch die Zurückweisungen der Anderen, die das Sagen haben. Seine Kunst wird nicht anerkannt. Doch könnte darin nicht eine besondere Freiheit liegen? Der Mann breitet seine Arme aus und seine Jacke, auf der hunderte von Sicherheitsnadeln befestigt sind, schlagen mit klirrendem Geräusch durch die Luft. Doch nicht nur die neue Umgebung hat Erwartungen. Auch die Daheimgebliebenen wollen ihren Wünsche an den Fortgegangenen Ausdruck verleihen. In den Gesprächen mit seinem Vater und seiner Mutter in dem Quadrat am linken Rand hockt der Mann sich neben einen braunen Tonklumpen. Soll er geformt werden oder formt er sich seine Erinnerungen?

Immer wieder flüchtet der Mann sich in eine Ecke. Mit dem Rücken zum Publikum geht er dann mit sich und der Welt ins Gericht. Er hadert, er verzweifelt, er trommelt mit den Fäusten, er lacht verzweifelt, er windet sich und springt dann doch wieder los auf das nächste Spielfeld. Ab und zu gönnt er sich eine meditative Ruhepause mit einem der Musikinstrumente im rechten hinteren Quadrat. Beruhigend tönende Flötenklänge, ruhige Energie spendende Trommelschläge oder kleine Gitarrenmelodien erklingen dann. Zum Schluss greift er in der Mitte zum Mikrofon und schmettert einen punkigen Song dem Publikum entgegen. Dabei schmiert er sich den Tonklumpen direkt ins Gesicht. Immer neue Formen entstehen auf seinem Kopf. Er wird für das Publikum ein anderer, er muss sich verwandeln, seine Person wird unkenntlich. Gerade dadurch gewinnt er die energetische Kraft, die mitreißt. Doch kaum ist der Song zu Ende, muss er sich erstmal wieder in seiner Ecke verkriechen.

Der türkische Performer, Tänzer, Schauspieler und Regisseur Caglar Yigitogullari ist ein Ausnahmetalent. Er fasziniert in jedem Moment, in dem er auf der Bühne steht. Diesen Abend über die Suche nach einer Heimat, die eigentlich die Suche nach Anerkennung und Gesehenwerden ist, über die Suche nach dem anderen Selbst, das man in der Fremde geworden ist, über die Verluste, über die möglichen Gewinne, ist in keiner Sekunde beliebig. Jede Geste, jede Mimik, jeder Tonfall, jede Bewegung ist mit künstlerischem Bedacht gewählt und erfüllt punktgenau die dramaturgische Absicht. Yigitogullari hat unter der Regie von Serkan Salihoglu ein Gesamtkunstwerk aus Kostüme, Bühnenbild, Musik, Licht, Text und Schauspiel geschaffen, das beeindruckt und gefangen nimmt.

Birgit Schmalmack vom 29.11.21