Zur Kritik von

BR-Klassik 
Tagesspiegel 
 

Orfeo ed Euridice, Staatsoper



Alles nur ein Traum

Orpheus ist untröstlich, seine geliebte Euridice ist tot. Selbst als fast alle Gäste ihres Begräbnisses fort sind, finden seine Trauer, sein Weinen und Schluchzen kein Ende. Zwei prominente, noch verbliebene Zuhörer in der Kapelle sind gerührt und einer von ihnen, Gott Amor, macht ihm ein Angebot: Wenn er sich zu Euridice in die Unterwelt wagt und sie wieder auf die Erde mitbringt ohne sie anzusehen, wird ihr ein zweites Leben geschenkt werden. Doch vor dieser zweiten Prüfung haben die Götter eine erste gesetzt: Orpheus muss das Tor zur Unterwelt durchschreiten, was ihm die Herren der Unterwelten in Ku-Klux-Klan-Kapuzen und mit Polizeischilden zu verwehren suchen. Mehr als einen Schlag ins Gesicht und in die Magengrube hat Orpheus zu durchleiden, während er seine Mitleidsarie singt. Dann endlich bekommt er Einlass. Wie eine bunte Baukasten-Spielwiese mit lauter feiernden Party-Menschen wirkt hier die Unterwelt, in der er Euridice suchen soll. Doch nicht unter den Partygästen findet er seine Geliebte sondern in einer kleinen Kammer. Wie geschaffen für eine liebevolles Wiedersehen in trauter Zweisamkeit, denkt natürlich die hoch erfreute Euridice, nichts ahnend von der Bedingung für ihr neues Leben. Sie versteht ihren Orpheus nicht mehr, der ihr scheinbar kalt und herzlos den Rücken zukehrt. Sie bedrängt ihn so herzzerreißend, dass er für einen Moment seinen Schwur vergisst und sie anblickt. Sofort sinkt sie leblos auf das Bett. Nun ist es an Orpheus erneut seine Dummheit, sein Leid und sein Unglück zu klagen. Er greift zur Waffe, die praktischer Weise direkt auf der Minibar liegt. Bevor er abdrücken kann, hat Amor ein zweites Mal ein Einsehen und erweckt Euridice erneut zum Leben.
So viel wundersamen Geschick mag Regisseur Jürgen Flimm jedoch nicht ganz glauben: Als die Beiden wieder aus der Unterwelt zurückgekehrt sind, verschwindet Euridice wie ein Traumbild im Hintergrund, während Orpheus wie zu Beginn die Asche in ihr Grab streut. Alles nur ein schöner Traum!
Flimm gibt den Emotionen in jeder Szene neue klare Bilder. Er unterstützt damit die Neuinterpretation des Stoffes durch den Komponisten Christoph Willibald Gluck in seiner zarten Innigkeit und dezidiertem Ausdruck des Gefühls durch die Musik. Er erzählt dazu die Geschichte. Doch der Abend wirkt nicht wie aus einem Guss, zu zusammengestückelt ist die Anlage des Bühnenbildes, das für jede Szene wechselt. In Kooperation mit Gehry Partners, LLP, so heißt es im Programmheft. Doch das dürfte nur für das bunte Bauklötzchen-Arrangement im Partyteil gelten. Es gibt viele kleine Bühnenbilder statt einem großen, das die nötige Klammer hätte sein können. So bleibt gerade dort, wo ein großer Architektenname in der Ankündigung Erwartungen weckte, eine Leerstelle. Musikalisch aber werden alle Erwartungen erfüllt. Alle drei Sänger machen ihre Sache wunderbar. Orfeo (Max Emanuel Cencic) ist ein gefühlvoll schmelzender Countertenor, Euridice (Elsa Dreisig) ein zart inniger Sopran und Narine Yeghiyan ein kraftvoll manipulierender Amor. Alessandro De Marchi dirigierte sein Orchester mit viel Gefühl und sichtlicher Freude.
Birgit Schmalmack vom 21.10.16