Drachenherz , Neuköllner Oper

Wer ist der Held?

In der ostdeutschen Kleinstadt-Gang sind die Strukturen klar geregelt. Günni (Florian Heinke) ist der Boss. Hagen (Johannes Kimmel) sein treu ergebener Schläger. Die beiden Mitläufer sind durch Baktus, den Querulanten, der gerne mehr zu sagen hätte, und Tropi, der sein Schwulsein unter einer besonders harten Fassade zu verbergen sucht, vertreten. Brünni ist die einzige Frau unter ihnen. Obwohl sie noch einen Kopf kleiner ist als der schmächtige Baktus, geht sie keiner Auseinandersetzung aus dem Weg und hat sich so ihren Platz erobert. Außerhalb steht Nasir, genannt "Abi-Ali". Unfähig sich zu wehren, ist er ihr williges Mobbing.Opfer. Durch das Auftauchen des Afrikaners Woda (Ngako Keuni) verschiebt sich der Fokus des Abreagierens ein wenig auf den noch fremderen. Die hübsche Jenny, Schwester des Boss, steht als Sehnsuchtsobjekt der Truppe zur Verfügung.
Dann taucht jemand in der Kleinstadt auf, die alles durcheinander wirbelt: Fred (Denis Riffel) stellt mit seinem Auftreten alles in Frage, an was alle bisher glaubten. Er gibt sich einerseits als Humanist, unterstützt sowohl den Asylbewerber Woda als auch Nasir, ist auf der anderen Seite auch gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht abgeneigt. In denen beweist er seine körperliche Überlegenheit und erntet so die Anerkennung, die selbst Günnis Rolle ins Wanken bringt.
Doch Fred ist nicht auf allen Feldern so bewandert. In Liebensdingen ist er ebenso wenig unerfahren wie all die anderen. So stolpert er schnell in eine Liebesnacht mit Jenny (Nicola Kripylo), ohne zu erkennen, dass sie daraus Ansprüche an die große Liebe generiert, die er nicht erfüllen kann. Ebenso schnell geht er auf die Interessensbekundungen der sich ansonsten so eiskalt gebenden Brünni (herausragend: Florentine Beyer) ein, deren Konsequenzen er ebenfalls nicht überblicken kann. So macht er sich in kürzester Feinde, die nicht nur ihn in den Abgrund führen.
Autor und Regisseur Peter Lund hat in seiner Sommerproduktion mit den Studenten des dritten Jahrgangs der HfbK eine Neuinterpretation der Siegfriedsage gewagt. Die gelungene Inszenierung lebt von der genauen psychologischen Analyse jugendlicher Gruppenstrukturen, dem überbordenden Temperament der Mitwirkenden, den mitreißenden Choreographien, den echt wirkenden Kampfszenen, der genauen Körperarbeit und der überzeugenden schauspielerischen und sängerischen Leistung. Die Komposition von Wolfgang Böhmer gibt den zahlreichen Emotionen passenden Ausdruck. Ob rockiger Kampfsong oder schmusiges Liebeslied, alles ist zu hören. Ob es des mythologischen Überbaus des Nibelungenliedes gebraucht hätte, um daraus einen Musicalabend zu machen, ist fraglich. Dieser Anspruch führt zu etlichen dramaturgischen Verrenkungen, die nicht immer nachvollziehbar für den sind, der die Sage nicht kennt. Trotz dieser kleinen Einschränkung: ein unbedingt sehenswerter Abend!
Birgit Schmalmack vom 24.7.19

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Tagesspiegel