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Unsichtbares sichtbar machen


Schon auf der Empore im Foyer des Eden wird klar: Dieses Stück ist eine Einladung um in die Welt des Bauhauses einzutauchen. Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum erschufen NICO AND THE NAVIGATORS (Konzept: Oliver Proske und Regie: Nicola Hümpel) 2019 ein Stück, mit dem sie nun schon zwei Jahre touren. Nun machten sie auch im Berliner Studio Eden Station. Haben die Bauhäusler schon immer versucht, mit ihren handwerklichen und künstlerischen Mitteln die Wirklichkeit und deren Wahrnehmung zu verändern und waren dabei neuen Techniken und Materialien gegenüber aufgeschlossen, so versucht das Performanceteam ganz in diesem Stil die neuen Möglichkeiten der Augmented Reality mit in ihre Recherche einzubeziehen. Man könnte meinen, dass die Technik hierbei im Vordergrund stünde. Das ist keineswegs der Fall. Ganz im Gegenteil. Sie steht bei ihnen nur im Dienste des penibel recherchierten Inhalts und der Schauspielkunst.
Eine junge engagierte Bauhaus-Elevin (Andrea Wesenberg) und zwei Dozent:innen treffen im Foyer aufeinander und liefern sich einen ersten Schlagabtausch ihrer künstlerischen Vorstellungen. Im Garten nimmt die spirituelle Meditation mit dem Bauhäusler Johannes Itten (Michael Shapira ) überraschend nationalistische Züge an. Er schwärmt nicht nur von der seelischen Bewegung durch die gerade Linie in der Kunst sondern auch in der reinrassigen Fortpflanzung. Wie sich Ernst Neufert (Patrik Schott) den perfekten Schweinestall vorstellt, erfährt das Publikum an der nächsten Station. Dann geht es in die Bühnenhalle. Zu den tatsächlichen Darsteller:innen, die in kleinen Szenen aus der Lehre und aus dem Schaffen am Bauhaus erzählen, gesellen sich auf den zwei Bühnen die imaginären Figuren und Gegenstände. Mit Hilfe der Magic Leap-Brillen überschreitet man die Grenze des bisher Sichtbaren und sieht im Bewegungskurs der extravaganten Karla Grosch (Annedore Kleist), wie Menschen zu fantastischen Spiralen und Kugeln werden. So dürfen auch die Entwürfe von Bauhaus-Möbeln endlich Gestalt annehmen, die es nie in die Realität geschafft haben. Die Zuschauer:innen sind aufgefordert mitzugestalten, indem sie mit den drei geometrischen Formen des Bauhauses dreidimensionale Räume entwerfen, die sie sich währenddessen aus allen Perspektiven ansehen können. Gewissermaßen ein Vorkurs in Sachen Gestaltung ganz im Sinne des Bauhauses. Doch neben dieser kleinen Spielerei sind die kritischen Anmerkungen dieses Stück nicht zu überhören. Die Funktionalität, die gerade das Bauhaus in den Fokus seiner Kunstausrichtung stellte, diente nicht nur als Anregung für viele berühmte Bauwerke sondern auch als Bauvorlage für so manche KZ-Baracke. In ihnen fanden sich die Bauvorschriften für den Neufertschen Schweinestall wieder. Auch der Schrift „Arbeit macht frei“ wurde von einem ehemaligen Bauhäusler entworfen. Tragisch wie viele von ihnen während der Zeit der Nationalsozialisten entweder fliehen mussten oder ermordet wurden. Davon zeugen die Bilder, die zum Schluss auf die virtuelle Kathedrale der Erinnerung geworfen werden. Viele Aspekte, die bisher in der Bauhaus-Forschung unter dem Radar der Aufmerksamkeit geblieben waren, führte dieses Stück anschaulich vor Augen. Dass es sich dabei direkt an der Schnittkante zwischen analoger und digitaler Erlebbarkeit bewegte, machte es umso spannender.
Birgit Schmalmack vom 18.10.21