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Im Schatten des Paradieses

Die Wildente, Thalia Foto: Armin Smailovic



Die fast fünfzehnjährige Hedwig lebt mit ihrem geliebten Vater und Mutter in ihrem kleinen beschaulichen behüteten Paradies (Bühne: Wolfgang Menardi). Obwohl eigentlich in Norwegen gelegen, hat sie es in ihrer Fantasie mit Palmen, wilden Tieren und einem Swimming Pool versehen. Doch es ist düster. Alles ist wie von schwarzem Öl überzogen, mit einer glänzenden dunklen Schicht Farbe überzogen. Einzig die riesige Fototapete mit dem glutroten Sonnenuntergang vor Palmwedeln bringt etwas Farbe ins Dunkel. Die damit verbundene Künstlichkeit springt umso stärker ins Auge. Ein Tropical Island im norwegischen Fjord. Hedwig will hier nie weg, so versichert sie. Auch deswegen, weil sie instinktiv spürt, wie gefährdet ihr kleines Paradies ist. Der Vater ist ein sprunghafter, labiler Mann, der nie verwunden hat, dass die Reputation seines Vaters durch einen Wirtschaftsskandal, für den er ins Gefängnis musste, verloren gegangen ist. Er musste sein Studium abbrechen und eine Lehre als Fotograf anfangen. Doch arbeiten kann er in diesem Beruf nicht. Die Porträtaufträge erledigt für ihn seine Frau Gina. Sie ist eine tatkräftige zupackende Frau, die die Leerstellen ihres Mannes mit nicht enden wollender Energie willig ausfüllt. Sie weiß, was sie leistet und was sie dafür bekommen hat: den Mann, in den sie wollte. Doch dieser ist von seinen Minderwertigkeitskomplexen gezeichnet. Er fühlt sich als Versager. Auch weil die Erfindung, an der er arbeitet, nur als nebulöse Erscheinung am Horizont existiert und selbst er nicht mehr an sie glauben mag.
Als sein ehemaliger Schulfreund Gregers nach längerer Abwesenheit zur Beerdigung seines Vaters in sein Elternhaus kommt, hat dieser leichtes Spiel, Hjalmars unsichere Vorstellungsblase zum Zerplatzen zu bringen. Gregers will seinem eigenen unsteten Leben endlich Sinn verleihen, indem er die Wahrheit in die Kleinstadt Einzug halten lässt. Er hat sich zum Ziel gesetzt, allen Lebenslügen die Grundlage zu entziehen. Zuerst bei seiner Schwester, die als Familienerbe ein Kurbad in der Kleinstadt betreibt. Gregers hat herausgefunden, dass die vorgeblich heilbringenden Quellen gesundheitsgefährdende Schadstoffe enthalten. Seine Schwester Helena ist aber eine taffe Geschäftsfrau, die sich von ihrem Bruder nicht im Vorbeigehen ihr Business ruinieren lassen will. So fokussiert sich Gregers mit seiner Wahrheitssuche zunächst auf Hjalmar. Auch bei ihm findet er ein unheilvolles Erbe. Als er in ihrer beider Familiengeschichten forscht, kommen ihm begründete Zweifel: Ist Hedwig tatsächlich Hjalmars leibliche Tochter? Zum Schluss kann Gregers vermelden: Mission erfüllt, zwei Familien zersprengt. Doch anders als bei Ibsens Originaltext bringt sich Hedwig hier nicht als williges Opfer für ihren Vater um. Nein, sie steigt aus. Die Fototapete verschwindet in den Bühnenhimmel. Ebenso die künstliche Sonne. Die hell glitzernde Kulisse fällt und Hedwig verlässt die Illusion einer heilen Welt. Regisseur Arnarsson entscheidet sich für ein offenes Ende. Die junge Generation verweigert der Gesellschaft ihre weitere Mitwirkung an der Lebenslüge eines Immer-weiter-so. Kein Bla Bla mehr, sondern Veränderung. Doch wie dieses aussehen wird, bleibt hinter den Wänden der Bühne verborgen.
Die Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson verknüpft zwei Stoffe Ibsens miteinander, um den Impetus der Ausrottung aller Lügen noch größere Emphase zu verleihen und sie in von der rein privaten in Richtung Natur und Umwelt zu verschieben. In den Text der „Wildente“ streut er Motive des „Volksfeind“. In ihm entdeckt der Badearzt Dr. Stockmann die Unheil bringende Stoffe im Kurbad. Das funktioniert erstaunlich gut, jedenfalls in den ersten zwei Dritteln. In den Schlussszenen allerdings mutiert die Rolle der Powerfrau Helena plötzlich zu einer Statistin, die im Dominaoutfit zur stummen Gewehrhalterin neben ihrem intriganten Bruder verkommt. Da läuft Jens Harzer zu manipulativen Höchstformen aus. Er wird zum Einflüsterer nicht nur für Hjalmar sondern auch für Hedwig.
Ein Theaterabend, der mit seiner überbordenden Bildfülle und inhaltlichen Querverweisen, die sich häufig gegenseitig irritierten, herausforderte. Eine Anstrengung, die sich lohnt. Nicht zuletzt wegen des grandiosen Thalia-Ensembles, das in der Lage ist, diese auch zum Teil auseinander strebenden Regieeinfälle zu einem Ganzen zusammen zu halten. Catherine Seifert als pragmatische, treu sorgende Mutter, Rosa Thormeyer als trotzig liebende Tochter, Tilo Werner als verrückter weiser Großvater, Marina Galic als wasserstoffblonde durchsetzungsstarke Businessfrau, Jens Harzer als irrlichternder Wahrheitssucher und Merlin Sandmeyer als haltloses Fähnlein im Wind, dem die Wahrheit seine Lebensgrundlage entzieht und der ins Bodenlose stürzt.
Birgit Schmalmack vom 28.12.21