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Das Recht auf die eigene Erinnerung

Alle Toten fliegen hoch, Altonaer Theater G2 Baraniak


Wie funktioniert Erinnern? Da ist Joachims Vater voll in seinem Element. Zu jedem Anlass, sei er auch noch so unpassend, kann er spontan die entsprechende Studie oder Theorie zu der Funktionsweise des Gehirns zitieren. Das Vaterlexikon ist im Gange und spuckt wahllos seine Bildung aus, wie sein Sohn (tolle Besetzung: Lukas T. Sperber ) entnervt feststellt. Um sich diesen und anderen Einflüsse seiner Familie (Eltern: Anne Schieber und Armin Köstler) zu entziehen und sein eigene Geschichte erzählen zu können, macht er sich auf zu einem Auslandsjahr nach Amerika. Um seine Chancen auf die Annahme durch die Vermittlungsagentur zu erhöhen, kreuzt er in seinem Fragebogen all die Dinge an, die seine wohl situierten Konkurrenten aus der Hamburger Wohlstandsviertel nicht angeben würden: ländlich, religiös und einfach. So kommt er in den leeren Zipfel von Wyoming, in dem die einzige Unistadt nur 30.000 Einwohner hat und er jede Woche drei Mal in die Kirche gehen muss. Doch seine Gasteltern (ebenfalls: Anne Schieber und Armin Köstler) sind überwältigend herzlich und begeisterungsfähig. Er kommt ohne jedes Talent für sportliche Aktivitäten ins Basketballteam der Schule und hat bei einer legendären Whirlpoolparty in der Prärie seinen ersten Sex. Doch dann klingelt das Telefon. Er erfährt, dass sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist und fliegt zurück nach Deutschland. Als sein Vater ihn bei einem windigen Deichspaziergang impulsiv und überbesorgt in den Arm nimmt, weiß er sofort, dass er schnell wieder zurück muss nach Amerika. Genau diese liebevolle Umklammerung seiner Familie verhindert schließlich, dass er sie aus einer sicheren Distanz sehen und sich selbst erkennen kann.
Joachim Meyerhoff hat in seinem ersten Band seiner "Alle Toten fliegen hoch" -Reihe durch die fiktionale Anreicherung seiner Erinnerungen seine eigene Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt und gleichzeitig so umgeschrieben, dass sie zu seiner eigenen wurde. Georg Münzel hat sie im Altonaer Theater ebenso liebevoll und selbstironisch auf die Bühne gebracht, wie Meyerhoff sie in seinem Roman aufgeschrieben hat. Lakonisch und mit dem Sinn für Leichtigkeit, Klamauk und Tiefgang setzt er mit seinem insgesamt hervorragenden und spielfreudigen Ensemble die kleinen Szenen auf der kargen Bühne um. Denn auf ihr steht nur eine rollbare große Kulissenwand. Zunächst noch mit dem grauen Rücken zum Publikum. Denn noch ist Joachim in Deutschland in der grauen norddeutschen Tiefebene. Doch auch als er dann endlich in den Flieger in die USA steigt, an seinem Bestimmungsort ankommt und sich die Kulissenwand umdreht, wird die Einöde nicht wesentlich aufgehübscht. Eine nur halb professionell angebrachte, wellige Fototapete von der beigen Ödnis von Wyoming ist nun zu sehen. Doch Joachim braucht nicht mehr als das. Der Abstand zu seiner Familie ist erreicht und er kann endlich anfangen seine eigene Geschichte zu erzählen. Ein gleichzeitig amüsanter und erhellender Theaterabend über das Recht auf die eigene Version der Vergangenheit.
Birgit Schmalmack vom26.5.22

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