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Den Moment verpasst

A long way down, Altonaer Theater (Foto: Bo Lahola)



Vier Menschen, die sich vorher nicht kannten, treffen in einer Londoner Silvesternacht zusammen. Man könnte denken, nichts Besonderes. Doch diese vier Leute begegnen sich nicht bei einer Party sondern auf einem Hochhausdach und haben alle beschlossen, heute ihrem Leben eine Ende zu setzen. Daraus wird nun erst einmal nichts. Denn die entstandene Schlange fürs Herunterspringen lässt sie den geeigneten Moment verpassen und ins Reden kommen. Eine skurrile Ausgangssituation, die sich vielleicht nur ein Brite wie Nick Hornby ausdenken und umsetzen konnte. In seinem Roman "A long way don" schildert der Autor, der selbst genügend Erfahrungen mit schwierigen Lebenssituationen hatte, wie diese Vier sich nun in den nächsten Monaten immer wieder begegnen und sich dabei, obwohl alle gleichermaßen labil, gegenseitig genau den Halt geben, um weiterzumachen.
Im Altonaer Theater wird daraus ein Stück, das hin- und herschwankt zwischen Komik und Ernst. Die vier Schauspieler:innen spielen allesamt sehr eigenwillige Charaktere, die auf den ersten Blick, und auch auf den zweiten, nicht viel miteinander zu tun haben. Da ist der überhebliche Fernsehmoderator Martin (Kai Hufnagel), der nach einem Fehltritt mit einer 15-Jährigen nicht nur seine Frau und Kinder sondern auch seinen Job verliert und im Gefängnis landet. Da ist Maureen (Anne Schieber), die altbackene, gläubige, allein erziehende Mutter, die sich aufopferungsvoll um ihren schwerstbehinderten Sohn Matty kümmert und nun nicht mehr kann. Da ist Jass (herausragend: Nadja Wünsche), das 17-jährige aufmüpfige, freche Gruftie-Mädchen, deren Familiezusammenhalt erodiert ist, nachdem Jass' ältere Schwester spurlos verschwunden ist. Ihre Eltern sind danach in einem tiefen Trauerloch verschwunden. Und da ist schließlich J.J. (Johan Richter), der nach dem Verlust seines Freundes und seiner Rockband seinen Lebensinhalt verloren hat.
Doch zunächst bleiben diese vier Persönlichkeiten und ihre Leidenswege sehr vage. Erst nach und nach ahnt man, warum diese Menschen springen wollten. Wie stark J.J. sich nur durch sein Bühnenleben selbst erfahren konnte, was Maureen eigentlich für ihren Sohn erreichen wollte, wie sehr Martin die Vordergründigkeit seines Lebens hinterfragt und wie sehr die pubertäre Jass doch ihre Eltern braucht. Bei manchen von ihnen allerdings erst, nachdem man im Programmheft Auszüge aus dem Buch gelesen hat. Doch gerade die psychologisch tiefer gehenden Momente auf der Bühne, die einzig mit betonfarbenen Holzkästen vor nebligen Großstadtkulisse bestückt ist, sind das, was dieses Stück ausmacht. Die witzigen Schlagabtausch-Dialoge und die klaren Rollenzeichnungen gibt es obendrauf, damit der Abend über so ein düsteres Thema wie Selbstmord nicht allzu schwer wird. Als alle Vier am Schluss auf einer langen, jetzt niedrigen Reihe aus den Kästen stehen und "Life goes on" singen, haben sie ihre Frist der schwierigen ersten 90 Tage nach dem Entschluss überstanden. Sie werden ihr Leben weitergehen lassen.
Birgit Schmalmack vom 21.10.22

ZUr Kritik von

NDR