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Ein Traumspiel zwischen den Zeiten

Silvesternacht, opera stabile Foto: Niklas Marc Heinecke


Die Zeit zwischen den Jahren ist ein Zwischenraum, in dem Fragen gestellt werden, für die ansonsten keine Zeit zu sein scheint. Hier wird die Identität, der Lebenssinn und die eigene Zielsetzung hinterfragt wie sonst selten. Das wusste auch schon E.T.A. Hoffmann an der Schwelle zum Jahr 1815.
In der Opera Stabile spielt nach seiner Erzählung "Silvesternacht" die gleichnamige Musiktheaterproduktion nun konsequenterweise in einem Zwischenraum zwischen Gestern und Heute. Ein Mann in abgerissener Outdoorjacke und New-York-Basecap stolpert in einen gesichtslosen Warteraum wie auf einem Flughafen. Hässliche Billig-Teppichfliesen liegen auf dem Boden, blaue Schalensitze stehen am Rand. Eine Kühlvitrine mit Erfrischungsgetränken an der Seite. Doch dann werden Versatzstücke einer hochherrschaftlichen Salonausstattung hereingefahren und die entsprechende vornehme Galagesellschaft in ihrer aufwendigen Rüschen- und Frackgarderobe stolziert herein. Neben Kronleuchter, Buffettisch und Bediensteten, die geflissentlich mit Snacks und Getränken herumlaufen, werden nun die Höflichkeiten und Belanglosigkeiten anlässlich des Silvesterfestes ausgetauscht. Der Mann hat sich schnell seiner Outdoorjacke entledigt und steht nun in einem total verschmutzen Frack da. Unversehens scheint er in seiner Vergangenheit gelandet und trifft seine unglückliche große Liebe wieder. Etwa die Möglichkeit die Zeit zurückzudrehen und mit der Vergangenheit auch die Zukunft zu korrigieren? Eine Illusion bzw. ein Traum, der sich zwischenzeitlich sogar in einem Alpraum verwandelt. Es entwickelt sich eine Geschichte rund um Enthus, der in Gestalt eines plötzlich auftretenden, mysteriösen Doppelgängers in den Spiegel blickt, um herauszufinden, wer oder was da eigentlich zurückblickt.
Das fast rauschhafte Abtauchen des Kostümbildners in den Fundus der Staatsoper fördert neu arrangierte Fundstücke zu Tage, die jeder Dragshow bestens zu Gesicht stünden und die Ausnutzung der Requisite durch die Bühnenbildnerin sorgte dafür, dass mobile Symbolstücke den funktionellen Warteraum ins 19. Jhs versetzt. Zu diesem Setting direkt an der Nahtstelle zwischen Realität und Fantasie hat der Komponist Johannes Harneit eine Musik komponiert, die dazu das emotionale Geländer bietet und die Zuschauer:innen durch den expressiven Einsatz der einzelnen Instrumente des kleinen Kammerorchesters an die Hand nimmt. Sie ist ebenfalls ein spannender, irrlichternder Zwitter zwischen Tradition und Moderne, zwischen Harmonie und kleinen Dissonanzen.
So ist diese Musiktheaterproduktion unter der Regie des jungen niederländischen Regisseurs Mart Van Berckel ein in sich stimmiges und mit kleinen wohltuend irritierenden Elementen versehenes Gesamtarrangement geworden, das viele Andockungsmöglichkeiten anbietet. Und dabei bewusst zwischen den Bezugsrahmen hin- und herwandert und dem Publikum zutraut, seine eigenen Geschichten in diesem Traumspiel zu entdecken.
Birgit Schmalmack vom 16.1.23