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Von der stummen Neben- zur Hauptrolle

Ob nun bei Shakespeare, Beckett oder Goethe. Stets hat er eine Nebenrolle, die im Hintergrund bleibt. Zeit also, ihn in den Mittelpunkt zu rücken. "Ich kann nicht sprechen, vielleicht hört ihr nur eure Gedanken?" Das ist das Dilemma des Baumes. Obwohl er in diesem Fall ein Gesicht, das von Juliana Oliveira, hat, kann er eigentlich nicht sprechen. Dennoch hört man irgendwann diese Bäumin reden, nein vorher sogar noch singen, allerdings ohne die Lippen zu bewegen. Doch der Reihe nach.
Zuerst steht der Baum wie stets als stummer Zeuge des Dramas am Rande. Dafür schlüpft Oliveira zuerst in den Pappstamm, dann in verschiedene Baum- und Blätterkostüme (Kostüme: Ilona Klein). Alles hat den Charme von Kindergartenbasteleien, kommt also mit einer gehörigen Portion Unterstatement daher und will doch große Botschaften vermitteln. Denn dem Baum geht es schlecht. Er wird abgeholzt, er hat Durst, er wird ausgenutzt, ihm wird zu heiß. All das wissen wir, das braucht uns Oliveira als Bäumin gar nicht zu erzählen. Und sie tut es auch nicht explizit. Sie will vielmehr Empathie für den Baum erzeugen, indem sie ihm eine Persönlichkeit gibt. Schaut und hört sie zunächst noch zu, wie die Dramen sich unter ihrem Geäst abspielen, so steigt sie bald aus ihrem Stamm heraus. Und als Xerxes ihr ein Liebesständchen singt, wagt sie 248 Jahre später eine selbstbewusste Antwort: Flugs holt sie aus ihrem Baumkostüm die langen giftgrünen Divahandschuhe hervor und singt ihm ihre kecke Replik. War sie vorher die demütig devote Empfangende, so wird sie jetzt zur selbstbestimmt Aktiven. Diese Szene, in der Oliveira alle Nuancen ihrer sich wandelnden Haltung mit nur dezentem Mimik- und Gestikeinsatz souverän darstellt, ist ein Highlight dieses Abends.
Denn er lebt weniger von den lose zusammengetragenen inhaltlichen Einzelteilen als vielmehr von der Präsenz seiner Soloperformanerin, die sie alle zu einem Ganzen werden lässt. So folgt man ihr auch, als sie am Schluss etwas zu lang Baumwitze erzählt und sich dröhnend vor Lachen ausschütten möchte, unterlegt von dem Unheil verkündetem Soundtrack von burgund_t_brandt. Fast übergangslos wird sie danach ganz dezent. Dann stellt sie sich bewegungslos direkt vor den Ventilator, in ihrem dünnen hautfarbenen Bodysuit mit den langen dünnen Fäden, die leise im Wind wehen. Nur sanft schwankt sie hin und her, um dann, als die Musik schon geendet hat, zaghaft ihre Hände noch oben ranken zu lassen und dann am Schluss ganz in die Höhe zu strecken, wie ein lebendiges Stoppschild für die Menschen. Vielleicht verstehen sie jetzt die Botschaft der Bäumin, nachdem sie ihr über eine Stunde zugesehen und -gehört haben?
Birgit Schmalmack vom 19.5.23