˜ [ungefähr gleich], Thalia in der Gaußstraße

˜ [ungefähr gleich]

Aus dem Gleichgewicht

Noch ist die große Wippe auf der Bühne im Gleichgewicht. Noch befindet sich der Geldhaufen in der Mitte, für alle gleich gut erreichbar. Doch dann betreten die vier Protagonisten die Holzplattform und der riesige Haufen aus kupferfarbenen Centstücken gerät ins Rutschen. Die Balance kommt aus dem Lot. Das Geld rutscht auf die linke Seite und macht den versuchten Aufstieg zu einer glitschigen und mühevollen Angelegenheit. Wo Geld ist, kommt weiteres hinzu. Die anderen gehen leer aus. Oben können sich sowohl die Menschen als auch ihr Geld schwer halten. Sie schweben immer nah am Abgrund. In diesem ausdruckstarken Bühnenbild von Judith Oswald siedelt Regisseurin Anne Lenk das Stück „≈ [ungefähr gleich]“ von Jonas Hassen Khemiri an. Es schildert fünf parallele Lebensgeschichten von Menschen am ökonomisch erfolglosen Rand der Gesellschaft.
Andrej (Steffen Siegmund) hofft nach seinem Abitur und einen erfolgreich abgeschlossenen Kurs in Wirtschaft und Marketing im Berufsleben durchstarten zu können. Sollte jedoch sein unaussprechlicher Nachname vielleicht der Grund dafür sein, dass alle seine Bewerbungen erfolglos bleiben und er sich schließlich über den Aushilfsjob im Zeitungskiosk freuen muss? Martina (Catherine Seifert) arbeitet genau dort, obwohl sie eigentlich von einem Aussteigerleben als Bio-Bäuerin träumt. Ihr Mann Mani aber (André Szymanski) hofft statt auf Bio-Klo und Gülle-Gestank auf einen gutbürgerlichen und gut bezahlten Job an der Uni. Die einsame Erika (Christina Geiße) schleicht in das Leben einer Unfallkranken ein, stiehlt ihr Geld am Krankenbett und spielt dennoch die brav ihre Arbeit verrichtende Angestellte. Als Zerrbild ihrer Situation dient allen der Obdachlose Peter, der sich vor dem Kiosk erfolgreich durch sein Leben schnorrt. Hat er etwa die Marketingstrategien von allen am besten verstanden? Oder wie Martina es gegenüber ihrem Mann ausdrückt: „Er setzt deine Wirtschaftstheorien in die Praxis um!“
Anne Lenk bemüht allerlei Comic- und TV-Klamauk, wie zwei laufende Pappschokoriegel, eine philosophierende Miss Piggy und ein kleiner Superman, um die wirtschaftlichen Theorieergüsse des selbsternannten Wirtschaftsexperten Mani unterhaltsamer werden zu lassen. So sprechend das Bühnenbild auch ist; als Spielfläche ist es eine Herausforderung. Mal wird ein Sofa hinaufgewuchtet, das auf dem Geld ins Rutschen zu geraten droht. Mal balancieren Martina und ihr Über-Ich (Christina Geiße) im Zwillingsoutfit auf der oberen Kante. Oft schätzen die Figuren aber auch den sicheren Boden unter ihren Füßen und bleiben vor der Wippe. Als Mani zum Schluss den Absprung ins Ungewisse wagt und sich dafür direkt in der Mitte der Waage postiert, helfen alle anderen mit, die Wippe ins Gleichgewicht zu bringen.
Es ist ein Abend über das Ungleichgewicht in der Konsumgesellschaft, über die auseinander driftende Schere zwischen Arm und Reich, über ein Leben am Rande des Prekariats. Anne Lenk wollte dabei bewusst die Risiken der Klischeebedienung vermeiden und entwarf eine schnelle unterhaltsame Nummernfolge. So werden aber nicht nur Peter sondern alle Figuren unter dem Scheinwerferlicht zu Fallbeispielen für Manis wissenschaftliche Betrachtung, sogar er selbst. Und der Zuschauer ist aufgefordert sich am Ende seine Theoriegebilde selbst zu erschaffen. Mani steht nach seinem Absprung dafür nicht mehr zur Verfügung.
Birgit Schmalmack vom 11.10.15



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