Drei Schwestern, Schauspielhaus Zürich

Drei Schwestern aus Zürich Foto: Matthias Horn


Leben müssen

„Wir wissen viel, aber wir brauchen es nicht,“ meint die jüngste der drei Schwestern resigniert. Man möchte beim Zuschauen hinzufügen: Wir wissen viel, aber wir gebrauchen es nicht. Die drei Schwestern verkümmern hochgebildet unter den Provinzlern des Ortes. Mantraartig reden sie von einem Umzug nach Moskau. Ob sie daran noch glauben mögen, bleibt allerdings fraglich. Als ein neuer Offizier (Stefan Kurt) direkt aus Moskau in ihren Ort kommt, prognostiziert er sogar: „Sie werden Moskau nicht mehr wahrnehmen, wenn Sie dort leben.“

Beim Tee und Wodka langweilen und philosophieren sie herum. Sie leiden an ihrem Nichtstun. „Man muss arbeiten!“ Doch die Stelle auf dem Postamt und in der Stadtverwaltung verschafft auch nicht den erwünschten Lebensinhalt. Also doch zufrieden geben mit einem ungeliebten Ehemann, Haushalt und Kindern? Doch ganz pragmatisch abfinden mit den anscheinend nicht zu verändernden Umständen?

Die drei Schwestern Mascha (Sylvie Rohrer), Irina (Dagna Litzenberg Vinet) und Olga (Friederike Wagner) haben jeweils einen anderen Weg eingeschlagen. Mascha hat einen braven Mann (Nicolas Rosat) geheiratet, den sie nicht liebt. Irina wartet auf die große Liebe und vertreibt sich die Zeit mit öden Bürojobs. Olga stürzt sich in ihre Arbeit am Gymnasium um abends zu müde zum Grübeln zu sein. Sie leiden alle an ihren hochfliegenden Träumen, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit finden. Als Frauen haben sie eine passable Ausrede parat: Ihren Verhältnissen könnten sie nur mit Hilfe eines Mannes entkommen.

Doch auch die Männer um sie herum scheinen nicht mehr Freiräume zu besitzen. Auch sie wählen pragmatische Lebensabfindungsstrategien. So begnügt sich ihr intelligenter Bruder Andrej mit einem Verwaltungsjob und einer tristen Ehe mit einer äußerst bodenständigen Frau statt einer Karriere an einer Moskauer Universität.

Regisseurin Barbara Frey lässt auf der Drehbühne (Bühne: Bettina Meyer) Einblick nehmen in die sonnendurchflutete Selbstmitleidshöhle der drei Schwestern. Sie zeigt Dank der offenen Räume ein Haus, in dem es keine Rückzugsräume für die individuelle Entwicklung gibt. Die Personen können sich durch ihre Lebenszeit von den zufällig hereinschneienden Besuchern, den alles kontrollierenden Angehörigen und alltäglichen Katastrophen treiben lassen. Schon diese Alltagsbewältigung frisst alle Energien. Am Schluss hängen alle ermattet vom eigenen Schicksal auf der Terrasse herum und konstatieren nur noch müde und ohne jede Hoffnung: „Leben müssen.“ Das Leben und das Schicksal gilt es hinzunehmen. Eine Haltung, die von einem gläubigen Katholiken stammen könnte, doch hier fehlt selbst die Hoffnung auf eine Entschädigung im Jenseits.

Die grandiosen Schauspieler vom Schauspielhaus Zürich machen den dreistündigen Abend der absurd komischen Melancholieausbreitung zu einem Highlight der Schauspielkunst. Besonders den drei Hauptdarstellerinnen schaut man bei ihrer psychologisch fein beobachteten Suhlerei im Opfersein bewundernd zu. Doch auch alle weitere Rollen sind perfekt besetzt und laden zur weitergehenden Analyse ein.

Birgit Schmalmack vom 3.11.15