Das kunstseidene Mädchen, Theaterfestival

Fritzi Haberlandt Foto: Nadja Klier



Umjubeltes Gastspiel mit Fritzi Haberlandt

Doris will so gerne ein Glanz werden, deswegen hat sie sich aufgemacht in die große Stadt namens Berlin. Doch nun verbringt sie ihre Tage im Wartesaal am Zoo, nur ihre Buchstaben bekommen einen Platz zum Schlafen auf den weißen Seiten ihres schwarzen Büchleins. Sie schreibt nicht etwa Tagebuch, sie will schreiben „wie ein Film“, denn so soll auch ihr Leben werden. Doch einstweilen ist sie davon weit entfernt. Sie schleppt ihre Tüten mit ihren paar Habseligkeiten mit sich herum. Sie weiß genau, wie diese Stadt tickt. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Sie kann nur ihre Jugend, ihr Aussehen und ihre Weiblichkeit anbieten. Eines Tages lässt sie sich ansprechen und mitnehmen. Doch dieser Herr Ernst will merkwürdiger Weise nur Gesellschaft und gibt ihr dafür einen Schlafplatz.
Sie versucht einen Fuß in die Tür zu bekommen. Sie weiß, dass sie etwas Besonderes ist. Sie weiß, dass sie sich Gedanken macht, zu denen die anderen Mädchen, mit denen sie abends weggeht, nicht imstande sind. Dann scheint sich eine Chance zu ergeben: Sie bekommt als Statistin im Theater einen einzigen Satz. Alle ihre Verflossenen hat sie ins Theater bestellt und sie jubeln ihr zu. Es wird ihr großer Tag. Einen Moment lang darf sie sich als Künstlerin fühlen.
Fritzi Haberlandt steht mit dem Musiker Sven Thomas für den Abend über "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun auf der Bühne. Das erzeugt eine besondere Spannung, denn auf der einen Seite steht klar eine akkurat gekleidete Frau aus den Dreißiger Jahren und auf der anderen Seite sitzt ein lässiger Mann von heute am Klavier.
„Dann, dann höre deiner Seele zu!“, hat Thomas zu Beginn am Piano den Moment beschrieben, wenn alles bisherige weg bricht und der Mensch sich völlig verloren vorkommt. Doris kennt diese Auf und Abs nur zu gut. Wenn sie jedoch mit dieser Unbedingtheit ihren Anteil am Leben sucht, geht sie in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg als junge Frau ein viel höheres Risiko ein als ein Künstler von heute.
„Ich verlange nichts vom Leben, ich verlange nur nach Worten, die sagen: Nicht allein!“, behauptet der Musiker. Doris will scheinbar mehr, doch eigentlich sucht sie nur eine Unbeschwertheit, eine Leichtigkeit, eine Lebenslust, die sie als Frau in ihrer Zeit aber nur über einen Mann erreichen konnte.
Die zarte Fritzi Haberlandt in ihrem schmucken Schleifenkleid und ihrem geklauten Kuschelpelz ist eine perfekte Besetzung für die scheinbar brave, unschuldige Doris, die sich aber schnell als gewitzt, keck, aufmüpfig und strategisch erweist. Im Zusammenspiel mit den heutigen Songs von Thomas wird die Tragik der unerfüllten Sehnsüchte einer jungen Frau von früher umso deutlicher.
Birgit Schmalmack vom 20.10.17