Woyzeck


hamburgtheater:

Ein offenes Rasiermesser

Sekundenlangsam hebt sich die glänzende Metallplattenwand und zeigt einen klein und unscheinbar wirkenden Menschen (Peter Moltzen) in un spektakulären offenem weißem Hemd und schwarzer Hose, der in den restlichen fünf Wänden des Metallwürfels (Bühne: Olaf Altmann) steht, den Blick auf den Boden gesenkt. Verlieh das Licht im Zuschauerraum dem Kasten noch einen goldenen Schimmer, verwandelt weißes Scheinwerfer ihn jetzt in einen Raum, der Eiseskälte ausstrahlt und ohne Ausweg ist. Da nützt auch der Schmusesänger (Markus Graf), der während des gesamten Stückes "Woyzeck", eine verkleisternde gefühlige Hormonie-Schlager-Soße über das triste Leben des Soldaten zu kippen versucht, nichts. Vom Jahrmarkt des Büchner-Fragmentes sind ansonsten nur noch die flackernden Reflexe der bunten Lichter auf den Metallwänden geblieben.

Die meisten Gestalten, die sich durch den schmalen Spalt zwischen Bühnenrand und Würfelende auf die Bühne zwängen, erscheinen als Witzfiguren - ganz so wie Woyzeck sie sieht. Der Tambourmajor (Peter Kurth) stellt seinen prachtvoll angefutterten, männlichen Bauch in einer nie gesehenen Bauch-Frei-Uniform (Kostüme: Michaela Barth) zur Schau. Der Doktor (Peter Jordan), der Woyzeck für medizinische Experimente nutzt, gerät nur noch beim Pulszählen in meditative Ekstasen. Der Leutnant (Norman Hacker) kommt zitternd und schlotternd vor Angst zu Woyzeck zum Rasieren. Er redet von Moral, doch weiß über sie nur zu sagen, dass sie irgendetwas mit moralisch zu tun hat.

Weitere Personen, die in seinen Lebenswürfel Zutritt erhalten, finden vor seinem beurteilenden Betrachtung mehr Gnade. Mit der schlanken, schönen Marie (Fritzi Haberlandt) hat er ein gemeinsames Kind. Vor ihren Bedürfnissen nach Aufmerksamkeit und wahrhaftiger Berührung schreckt er jedoch zurück - zu sehr ist er in seiner eigenen inneren Ausweglosigkeit gefangen. Mit seinem Freund Andres (Katharina Schmalenberg) verbindet ihn zwar eine respektvolle Zuneigung, aber auch sie bleibt aber stets auf Distanz.

Schon an den vorgeblichen Autoritätspersonen, die trotz ihrer offensichtlichen Lächerlichkeit Achtung von ihm fordern, droht Woyzeck irre zu werden. Doch als seine Marie auch noch auf die tölpelhaften Pirouetten und den hochaufschwingenden Federbusch des Tambourmajors hereinfällt, stürzt sein letzter kleiner Halt zusammen und seine mühsam zurückgehaltene Aggression bricht hervor. Kaltblütige Gewalt lässt in einem Amoklauf das Rasiermesser zum Einsatz kommen. An einem nach dem anderen nimmt er Rache für sein armseliges Leben. "Eh alles gleich!" Zum Schluss steht die zarte Marie als einzige noch Lebende vor ihm auf der mit Leichen gefüllten Bühne. "Stirb, höre auf zu atmen!" schreit er sie an. Doch sie übernimmt keine Verantwortung. So tötet er auch sie in einer letzten erdrückenden Umarmung, die eine vergebliche, unerfüllte Liebe und gleichzeitig kaltblütigen Hass ausdrückt. Endlich ist Stille, endlich ist Ruhe, keine Enttäuschung, keine Verletzung, Zurückstellung mehr. "Still, alles still..."

Eine überaus brutale Interpretation von Michael Thalheimer, die in ihrer Konsequenz erschreckt, aufwühlt, berührt und spaltet. Neben vielen Buhs waren auch vereinzelt Bravos bei der Hamburger B-Premiere zu hören. Schon im Zuschauerraum begannen die Diskussionen über das Gesehene. Kalt lassen dürfte diese hoch aktuelle Sicht auf Woyzeck als Täter ohne moralische Ansprüche, ohne psychologische Erklärungen und ohne politische Ambitionen wohl kaum jemanden.

Birgit Schmalmack vom 6.10.03