Kassandra


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Immer empfangsbereit

Unter Blinden eine Seherin zu sein, klingt zunächst nach ruhmreichem Auserwähltsein, erweist sich aber eher als eine Strafe. Die wissende Kassandra gilt als Lügnerin, als Irre, als Spinnerin, der kleiner glaubt.

Verrückt kichernd liegen zu Beginn der Inszenierung von Kriegenburg im Thalia in der Gaußstraße gleich vier dieser Wahrsagerinnen, den keiner zuhören mag und die nichts ändern können, auf dem blutroten Boden. Sie wälzen sich niedergestreckt von den ablehnenden Reaktionen ihrer Umgebung in ihrem rot ausgeschlagenen Bühnenkasten, der im Gegensatz zu den anderen Aufführungen des Antiken-Projektes "Medea" und "Elektra" mit einer weißen Rückwand aus durchlässigen breiten Stoffstreifen versehen ist.

Die vier Frauen schildern die verschiedenen Facetten dieser vielschichtigen Weissagerin. Das brünette Blondchen Victoria Trauttmansdorff offenbart ihre Problemzone im Stil einer Bekenntnisshow: Ihre Augen liegen zu tief, der Lidschatten würde einfach zur Geltung kommen. Verena Reichhardt quälen substanziellere Probleme; sie sackt in großer Trauer zusammen, als sie sich an ihre Vergewaltigung erinnert. Wenig später darf sie zu lauter Rockmusik das wilde Tier, das sich auch in ihr versteckt, herauslassen. Die anderen Frauen schauen ihr verwundert und amüsiert zu und feuern sie mit Vorschlägen wie "Mach doch mal den wilden Walfisch, die wilde Ameise!" an. Leila Abdullah hat die Nase voll; sie zieht mit einem Stück Kreide einen weißen Schlussstrich und landet bei einem Zuschauer in der ersten Reihe. Günther heißt der Auserwählte, der ihr anscheinend vom Schicksal zugewiesen wurde und mit dem sie einen Neuanfang wagen möchte. Er sei ihre sichere Prognose für eine vielversprechendere Zukunft. Doreen Nixdorf beschäftigt die Frage, wie normal der Krieg für einen Menschen werden kann, wenn er die letzten 10 Jahre des erst 32-jährigen Lebens einnimmt. Lässt sich die Empfindung von Trauer immer weiter steigern? Oder muss sich das Gefühl abnutzen, um das Überleben zu sichern? Ihr eindringliches Stakkato dieser niederschmetternden Lebensbilanz ragt aus den übrigen Bekenntnissen heraus und berührt.

Eine Podiumsdiskussion wird inszeniert, bei der vier Frauen mit dem Namensschild "Kassandra" sich im Stile von engagierten Vertreterinnen von Menschenrechtsorganisationen lautstark für ein gemeinsames Vorgehen gegen Krieg, Aids, Terrorismus oder Imperialismus einsetzen. So laut, dass nur einzelne Wortfetzen zu verstehen sind. Zusammen kämpfen - das ist die Botschaft, das Ziel wird schon das richtige sein.

Kriegenburg richtet ein tiefgründiges, humorvolles, unterhaltsames Gedankenbüfett für all die engagierten, aber machtlosen Warnerinnen unter den Menschen an, die damals wie heute gerne ignoriert werden. Er benutzt für sein Kassandra-Projekt Texte von Äschylos, Schiller, Christa Wolf und sogar von Abba. Ihr Popsong "Kassandra" wird zum Beweis, das er bestens passt, von den vier Schauspielerinnen ins Deutsche übertragen und zum Anlass genommen, sich gemeinsam bei all den ungehörten Warnern zu entschuldigen. Mit einem "Sorry!" schleichen sich von der roten Bühne. Zum Happy-End verkündigt Verena Reichhardt noch vom Bühnenrand die freudige Neuigkeit: "Ich sehe nichts mehr, keine Zukunft mehr zu sehen, bitte bleiben Sie so." Doch ganz scheint ihre Intuition ihr nicht abhanden gekommen zu sein; sie sieht messerscharf vorher, dass gleich das Licht ausgehen wird. Und wie immer hat sie recht.

Birgit Schmalmack vom 6.03.04

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