Das Leben vor dem Tod

"Erzähl mir etwas Nettes!" fordert Cliff (Jens Richter) Rose (Inka-Charlotte Palm) auf. Die entgegnet: "Mir fällt nichts ein." "Mir aber schon..."

Was der betont männlich auftretende LKW-Fahrer von der schüchternen Penny-Kassiererin will, ist klar. Ein Kuss, eine Umarmung und dann "Liebe machen". Doch Rose ist nicht "so eine". Sie träumt lieber von einem Mann als ihn leibhaftig bei sich zu haben. Dazu hat sie zu viel Angst vor Verletzung, denn die Welt erscheint ihr ganz und gar verkorkst. Ihre Zimmergenossin Brenda hat sich für ihre große Liebe, die nach einer Nacht nichts mehr von ihr wissen wollte, in den Schnee geworfen und wäre fast erfroren. Ihre Vormieterin hat sich erhängt, weil der Tod ihr einziger Geliebter war, der sie nie mehr verlassen konnte. So ist Rose mit ihrer großen Portion Naivität und Gradlinigkeit zu gut für diese Welt, die eben nun einmal so ist, wie sie ist, wie Cliff treffend feststellt.

Er hat sich im Gegensatz zu Rose damit abgefunden, dass er das Leben so auskosten muss, wie es sich ihm nun einmal mit seinen mageren Möglichkeiten darbietet. So versüßt er sich seinen Feierabend in fremden Städten, weit weg von Frau und Kind, gern mit einem netten, willigen Mädchen. Dass er dabei ausgerechnet an Rose gerät, die eine dicke Mauer um sich und ihren hübschen, jungen Körper gebaut hat, macht ihn unsicher. Er, der letzte Überlebende der Eiszeit, ist zugleich abgestoßen und angerührt von diesem zarten, ihn mit großen Kinderaugen anblickenden, unschuldigen Mädchen. Er möchte zunächst sich und dann vielleicht auch ihr etwas Gutes tun, aber muss erkennen, dass er mit seiner zupackenden Art und seinem derben Humor bei diesem tief verletzten, verschüchterten Wesen nur wenig Erfolg hat.

Mit hervorragenden Schauspielern unter der sensiblen Regie von Friedemann Wulfes hat das dieMIRtheater in Zusammenarbeit mit dem Theater Orange ein äußerst interessantes Stück von William Mastrosimone auf einem abgenutzten Orientteppich in der Teeküche des neuen Zimmertheaters in einem Hinterhof der Schanzenstraße in Szene gesetzt. Mit Gefühl für Pausen in den richtigen Momenten, für leise und laute Töne, für das Kippen der Stimmungen zeigen die beiden Darsteller das Zusammentreffen von zwei sehr unterschiedlichen Menschen und ihrer Hoffnungen. Fragile Momente des kurzen Einverständnisses, wenn sie einen gemeinsamen Traum von einer Fahrt zum Ozean nachhängen, prallen gegen die handfesten Interessen des Mannes und die Verstörtheit der zerbrechlichen Frau. Nie werden die Aussagen platt, nie werden die beiden Charaktere einseitig auf eine Interpretation festgelegt. Geschickt entwickeln sich während der zwei Stunden immer wieder neue Aspekte der beiden, die die Spannung bis zum Schluss halten.

Birgit Schmalmack vom 11.3.02