Andorra


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Ich bin nicht schuld

Die Andorraner sind sich keiner Schuld bewusst. Sie haben sich nur den Regeln entsprechend verhalten. Keiner wollte dem jungen Mann Andri (Henning Hartmann) etwas Böses. "Aber sie machen es uns auch schwer ihnen etwas Gutes zu tun." "Sie legen es auf unser schlechtes Gewissen an." So sind ihre Erfahrungen im Umgang mit den Juden im Allgemeinen und dem Sohn des Lehrers im Besonderen. Denn dieser hatte ihn als seinen jüdischen Pflegesohn ausgegeben. Er ist aber in Wirklichkeit das Ergebnis einer verheimlichten Affäre. Als der Vater sich immer weiter in seinen Lügen verstrickt und Andri das Vertrauen in ihn verliert, ergibt er sich dem Urteil der Anderen und wird zu dem, was sie in ihm sehen. "Ich fühl wirklich anders als sie", erkennt er dann.

Seine Schwester Barblin kann den geliebten Bruder nicht schützen vor den Attacken der Übrigen. Als Krieg ausbricht, greifen sie sich ihn. "Sie brauchen einen Schuldigen", meint Andri und setzt sich offen auf den Marktplatz. Barblin wird darüber verrückt, ihr Vater hängt sich auf.

In aller Deutlichkeit hat Claus Peymann am Berliner Ensemble die Parabel "Andorra" von Max Frisch inszeniert. Er hält sich streng an den Originaltext. Ihm geht es um den Rassismus, der tief in der Volksmeinung verankert ist. "Warum seid ihr stärker als Wahrheit?", fragt sich Andri. Die Antworten sind klar: weil die Masse die Meinung bestimmt. Weil die paar, die anders denken, stillschweigend weggucken. Weil alle denken, sie trügen keine Verantwortung.

Das Gastspiel im Theater Haus im Park bot eine gute Möglichkeit Vergleiche zur Inszenierung von Tina Lanik im Schauspielhaus zu ziehen. Ihr ging es vornehmlich um Andris Rolle, die ihm von der Gesellschaft zugebilligt wird und ihre Veränderung. Sie richtete ihren Blick auf das Individuum und seinen Platz in der Gesellschaft. Peymann geht es um die Mehrheit und wie sie die Meinung bestimmt. Seine Inszenierung zeigt Frisch Sichtweise in ihrer historischen Komplexität, während Lanik die Parabel ganz in die heutige Zeit rückte und die Ansätze auf jedwede Zuschreibung ausweitete. Zwei unterschiedliche Inszenierungen, beide auf ihre Art sehr interessant und sehenswert. Das Publikum bedachte zu Recht die beiden Hauptdarsteller Hartmann und Angela Gilges mit langanhaltendem Applaus.

Birgit Schmalmack vom 9.4.06