Bandscheibenvorfall


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Codewort Spießer

Fünf Menschen sitzen im Vorzimmer einer arg in Jahre gekommenen Geschäftsetage und warten auf ein Gespräch mit ihrem tyrannischen Chef. Er kündigt sein "Der Nächste bitte" mit einem fiesen, mehrmaligem Sirenenton und rotem Blinksignal an. Der stets Unsichtbare zeigt nur seine Auswirkungen auf die Mitarbeiter. Mit einem Messer im Rücken, mit Karnevalshütchen auf dem Kopf, mit viel zu großem Anzug, mit Brotteigmaske und mit piepsiger Stimme kommen sie wieder heraus. Geschickt kuckt er sich immer jemand anderen heraus, den er gerade zum seinem Favoriten erklärt, doch stets nur so lange, bis dessen Selbstsicherheit die Arroganzgrenze erreicht hat. Dann lässt er ihn wieder fallen.

Seine bemitleidenswerten Untergebenen sind zur ineffektiven Untätigkeit verurteilt und füllen ihre Wartezeiten mit allerlei netten Konkurrenzspielchen. Allein ihr "Guten Morgen" reicht schon aus, um das erste Opfer zum Außenseiter zu erklären. Dieser Looser lässt sich dann Ohrfeigen von dem derzeitigen Winner verabreichen und findet noch mitleidvolle Entschuldigungen für ihn, um nicht zur Gegenwehr antreten zu müssen: "Dem muss es ja schlecht gehen, sonst hätte er so etwas doch nicht nötig."

Diese Fünf benehmen sich wie die Hunde, die bei Bedarf auf einander losgehen, um an die neueste Ausarbeitung des Konzeptes der Firmenleitung zu kommen. Das zeigt Ingrid Lausund in ihrer neuen Produktion "Bandscheibenvorfall" nicht mehr in zarten, ironischen Andeutungen wie in "Hysterikon", sondern indem sie ihre bewährten Schauspieler wie große und kleine Kläffer sich beißen, besteigen und jagen lässt. Das Publikum erfreut sich lauthals am Wiedererkennungswert.

Ist die erste Hälfte eher der Typencharakterisierung gewidmet, erzählt Lausund in der zweiten ihre bekannt hintergründigen, witzigen Geschichten und die Dichte an Überraschungen, spannenden Vieldeutigkeiten und Differenzierungen erfährt eine erfreuliche Steigerung. Hier planen Zwei den heimlichen Aufstand, von dem der Chef aber nie etwas erfahren wird, da er nur im "verminten Subtext" geäußert wird. Brillant verkörpern Bernd Moss und Bjarne Mädel die ängstlichen Kleinbürger, denen der zuverlässige Zuckervorrat der Kaffeetheke Grund genug ist, ihre Kündigung noch einmal aufzuschieben.

Alle kleinen Kriecher bekommen die Gelegenheit zu einem Einzelauftritt und sind nicht mehr nur mit gruppendynamischer Selbstdarstellung beschäftigt. Bernd Moss fragt sich, wann dieses ständige Verstellen, Lügen angefangen hätte, das sich schließlich zu einer kompletten Meinungslosigkeit ausgebreitet hat. Christian Kerepeszki erlebt immer wieder Glückserleuchtungen, die ihn völlig aus seiner gewohnten Arbeitskontrolle bringen. Er muss diese unvorhergesehenen Ereignisse als Grippenanfälle kaschieren, um seine korrekte Arbeitsmaske nicht ganz zu verlieren. Sarah Masuch ist einfach kaputt und will keinen Reparaturdienst in Anspruch nehmen, dem ja nur daran gelegen ist, ihre Funktionstüchtigkeit wieder herzustellen. Bjarne Mädel hat sich geschickt hinter der Tarnkappe eines Spießers versteckt. Seine Benutzeroberfläche ist ganz unauffällig. Sein Passwort hat er aber leider vergessen. "Blöd wäre es schon, wenn ich jetzt sterben würde. Dann würden mich alle für einen kleinbürgerlichen Spießer halten."

Anne Weber, die in dieser Firma als Einzige einen Blick für das zugrundeliegende Allgemeinwohl hatte, verzichtet auf ihren einsamen Monolog zugunsten einer gemeinsamen Session im WC: "You've got a friend." Das kann in diesem hoffentlich rein fiktiven Unternehmen nur in der Abgeschlossenheit der Toilettenräume Wahrheit werden. Bis hierhin ist die fordernde Sirene des Chefs nicht zu hören.

Birgit Schmalmack vom 8.4.02