4.48 Psychose


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Pathologische Trauer

Sarah Kane diagnostiziert in ihrem  letzten Stück "4.48-Psychose", das sie kurz vor ihrem Selbstmord geschrieben hat, bei sich eine pathologische Trauer. Nachdem sie alle Sorten von Therapien und Medikamenten an sich hat ausprobieren lassen, benutzt sie das einzig wirklich wirksame Mittel: Sie begeht Selbstmord. Um 4.48 Uhr beschließt sie ihrer Qual, in einem Körper zu sein, der nicht zu ihrer Seele passt, ein Ende zu setzen. Sie leidet an einer Welt, die sie nicht sieht, die sie nicht erblickt und die sie nicht liebt. Das macht sie an einzelnen Personen fest: an ihrer sie verlassenden Mutter, an ihrem sie nicht liebenden Vater, an einem ihrer vielen Ärzte.

Dieser Assistenzarzt enttäuscht sie in ihrer abhängigen Patientenrolle auf besonders dramatische Weise. Er hat sie tatsächlich angesehen und ihr Zuneigung gezeigt. Das hat ihrem ausgehungerten Selbst genügt, um sich mit all ihrer nutzlosen Liebe auf ihn zu werfen und sich tief verletzt zu fühlen, als er dann von einer "professionellen Beziehung" zwischen Arzt und Patientin sprach.

Doch er ist nur eines ihre Liebesobjekte, die sich immer wieder in Schweigen und Nichtbeachtung zurückziehen. Auch Gott ist ein der Angerufenen, der nicht antwortet. Und die Frau, die noch nicht geboren ist oder schon tot ist, die aber von ihr innig geküsst werden soll.

Diese grenzenlose Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit einer Frau wird von Ursula Doll überragend eindrücklich und berührend dargestellt. Sie zeigt eine Frau, die sich mühsam dagegen wehrt, sich von einem Doktor Dies oder einem Doktor Das mit immer neuen Medikamenten ihren Verstand ausknipsen zu lassen, auch wenn dieser sie letztendlich in einem Meer von Logik und Wahnsinn ertrinken lässt. Sie kennt all die klugen Ratschläge der Herren Psychiater auswendig ("Stärke dein Selbstwertgefühl. Mach dich frei. Suche dir Ziele. Habe Erfolge. Gestalte Beziehungen.")  und weiß doch, dass sie ihr nicht helfen werden. Ebenso kann sie ihre Patientenakte mit den immer wieder veränderten Medikationen und den Arztkommentaren ohne Stocken herbeten und durchschauend karigieren.

Laurent Chétouane schickt die zarte, zerbrechlich wirkende Doll in Hose und Shirt ohne Schuhe in den rohen Betonbunker des Malersaals und vertraut ganz auf den Text von Sarah Kane. Kaum Lichtveränderungen, keine musikalische Untermalung, keine Dekoration, kaum Bewegungen werden ihrem Bericht zugesetzt. So allein und unbehaust, so eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit, wie die Frau sich fühlt, so steht Ursula Doll zwischen den kahlen Betonmauern. Chétouane hat sicher erkannt, dass der Aufführungsort des Malersaals keine Steigerung der beklemmenden Stimmung braucht. Und er hat ebenso klar gesehen, dass er die perfekte Besetzung für die Rolle der intelligenten, logisch konsequenten und doch unsagbar verzweifelten Frau gefunden hat.

Birgit Schmalmack vom 12.4.02