Die Schere


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Lauter einzelne Personeneinheiten

Paula Dombrowski sitzt breitbeinig in Unterwäsche, die Augen hinter einer Riesen-Sonnenbrille versteckt, in einem roten, abgenutzten Sessel. Ein mit schäbiger Textiltapete beklebter Bühnenkasten (Bühne: Astrid Dollmann) begrenzt ihren Aktionsraum im Foyer des Thalia-Theaters in der Gaußstraße. "Ich leihe nur den Beteiligten dieser Geschichte meine Stimme", verkündigt sie. Ihre Geschichte über "Die Schere", die eigentlich nicht erzählt werden könne, beginnt an einem ganz normalen Freitagmorgen. Sie handelt von einer durchschnittlichen Dreipersonen-Familie. Sie besteht aus einem arbeitslosen Alkoholiker-Vater, einer in der Fabrik arbeitenden Mutter und einem neunjährigen Sohn.

Paula Dombrowski liefert scheinbar unbeteiligt eine Bestandsaufnahme der Familienverhältnisse. Sie ist nur deren Stimme. Manchmal leiht sie ihnen allerdings auch ihren Körper. Dann mimt sie den alkoholisierten Vater, der seine Blase in die Polstergarnitur erleichtert, die Mutter, die ihre inzwischen angeschwollenen Rundungen im Spiegel betrachtet und den Sohn, der sich seinen ganz eigenen Reim auf sein bisheriges Leben macht.

Die Geschichte handelt von den ganz normalen Enttäuschungen des Lebens. Sie fängt in kurzen prägnanten Sätzen die unsagbare Traurigkeit und Beschränktheit des desillusionierenden Alltags ein. Die Sprachlosigkeit der Erwachsenen macht dem Kind auf grausame Art klar, dass es nur einsame Personeneinheiten in dieser Welt gibt. Das Kind findet sich in einer unendlicher Einsamkeit vor. Niemand ist in der Lage ihm etwas zu erklären. Wahrhaftige Verständigung mit den anderen Personeneinheiten ist ihm unmöglich. Das Kind zieht seine dramatische Konsequenz aus diesem unerträglichen Zustand.

Dea Loher hat diese Geschichte ersonnen, weil sie so nicht geschehen ist, aber in ihrer Logik denkbar wäre. Regisseurin Christina Rast trägt in ihrer unsentimentalen Inszenierung diesen vernunftgesteuerten Überlegungen Rechnung. In der distanzierten Darstellungsform wird einer möglichen klischeehaften Theatralik kein Raum gegeben. Paula Dombrowski bleibt die distanzierte Stimme der Erinnerung und Beobachtung. Sie ist trotz des engen Rahmens eine so wunderbar präsente, und eindringliche Erzählerin, dass sie es schafft, den Personen Kontur zu geben und ihre Geschichte unter die Haut gehen zu lassen.

Birgit Schmalmack vom 5.12.04