Unter dem Milchwald



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Sprachgewaltige Dorfchronik eines Tages

Es ist Nacht. Es ist dunkel - eine mondlose Nacht. Die Menschen schlafen. Es ist still. Nur das angestrahlte Gesicht des Erzählers leuchtet auf der dunklen Bühne des Altonaer Theaters. "Du kannst die Nacht hören. Du kannst die Nacht sehen", verspricht er. Nicht nur die Nacht sondern einen ganzen Tag in einem kleinen walisischen Dorf erschafft er mit seinen Worten vor unseren Augen und Ohren. Lautmalerisch, sprachverliebt beschreibt der Dichter Dylan Thomas in "Unter dem Milchwald" das Leben und die Menschen in einem Fantasieort. Durch Alkoholkonsum beflügelt brachte er seine Beobachtungen hauptsächlich in einem Pub zu Papier. Folglich sitzt auch der Erzähler Paul Matic an einem Kneipentisch und trinkt und raucht und schreibt und erzählt. Auf der schrägen, schmucklosen Spielfläche illustrieren derweil sechs Schauspieler (Jörn Bach, Norbert Eichstädt, Charlotte Heinke, Dirk Hoener, Hans Schernthaner und Angela Schmid-Burgk) seine Schilderungen. Pantomimisch ersetzten sie dabei auch gleich alle Requisiten, Häuser, Tiere und Kleidungsstücke. Stetiger Rollenwechsel ist unabdingbar, um die vielfältigen Geschehnisse im Dorf zu zeigen. Schließlich soll die alltäglichen Verrichtungen und Träume aller Dorfbewohner gewürdigt werden: Der Kapitän, der Fleischer, der Organist, der Bäcker, der Pastor, die Lehrerin, die Krämerin, die Schulmädchen und -jungen, die Hure, die unverheiratete mehrfache Mutter und der Tu-Nicht-Gut. Als der "Frühling wieder einmal die grünlederne Peitsche schwingt" und "der Nachmittag summt wie träge Bienen" muhen die Kühe, singen die Sägen, fauchen die Katzen, gackern die Hennen, klatschen die Frauen, kreischen die Möwen, spucken die Fischer, schwappt das Meer, klatschen die Wellen und grunzen die Schweine. "Blassgrün wie ein sterbender Salatkopf" liegt das Dorf vor dem geistigen Auge.

Paul Matic ist die Stimme und Figur, die dem sprachgewaltigen Abend unter der schon vor Jahren erprobten Regie von Michael Bogdanov genau den richtigen Zusammenhalt und Tiefgang verleiht. Das gespielte Geschehen führt seine Sätze getreulich aus und bleibt dabei an der Chronisten-Oberfläche. Das ist sehr unterhaltsam, aber lotet nicht immer die Doppelbödigkeit aus, die in dem Tonfall ihres Erschaffers stets mitschwingt. Doch wenn Charlotte Heinke mit ihrer glockenhellen Singstimme melancholisch um ihren Liebsten trauert und dabei dennoch lächelnd den Boden schruppt, wird ihre Figur Polly zu einem Menschen, dessen dörfliches Schicksal berührt.

Birgit Schmalmack vom 22.5.04

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