Weniger ist mehr?

Nach der Pause betritt Nina (Heather Jurgensen) die Bühne in schwarzen langen Mantel und kecker Baseballkappe. Mit ihren eckigen, zugleich energischen und doch ziellosen Bewegungen drückt sie ihre unerfüllten Sehnsüchte aus, ihre Unfähigkeit sie mit der angebotenen Liebe von Kostja (Juri Bubenicek) zu erlangen und ihre Willensstärke, sie weiterhin bei ihrem eher flatterhaften Tanzlehrer (Otto Bubenicek) zu suchen. In diesen Momenten erreicht "Die Möwe" von John Neumeier einen ihrer Höhepunkte. Vorher muss allerdings vieles abgehandelt werden.

Denn Neumeier wollte einiges in seinem Ballett "Die Möwe" nach der Literaturvorlage von Tschechow unterbringen. Alle Figuren des Stückes tauchen auf, farbenfrohe Ausstattungs-Opulenz wird mit eingebaut, avantgardistisches Theater gezeigt, wahrer Kunstverstand gegen konsumorientiertes Schielen nach dem Publikum gesetzt und sämtliche dramatische Situationen werden getreu in Tanzsprache übersetzt. Letzteres nimmt Neumeier so wörtlich, dass er den Konflikt in der Schauspielerfamilie auf die Bühne des Tanzes verlegt. Die Diva-Mutter (Anna Polikarpova) ist jetzt eine Primaballerina und ihr Sohn Kostja ein Choreograph, der seine Berufung in der Moderne sucht. Um diese Beiden ranken sich die weiteren Figuren. Die Möwe Nina ist zunächst mit dem Tanzerneuerer Kostja verbandelt und folgt ihm in die advangardistische Tanzszene nach Moskau. Später wechselt sie die Seiten und beginnt eine Liason mit ihrem traditionell orientierten Tanzlehrer, der ebenfalls mit der Diva verbandelt ist. Die stets schwarzgekleidete Mascha (Joelle Boulogne) hat ihr Herz an Kostja verloren, heiratet aber einen anderen, da dieser sich weiterhin nur für Nina interessiert.

Neumeiers Ensemble glänzt in Ausdruck und Präzision. Jurgensen ist eine zarte, melancholische, begehrende und willenstarke junge Frau. Wenn Boulogne als Mascha ihre zaghaften Annäherungsversuche an Kostja zeigt und seine Abweisung zu spüren bekommt, drückt sie eine so unendliche verzehrende Traurigkeit und Müdigkeit aus, als wenn der feingliedrigen Frau Zentner auf ihren Schultern lasten würden. Bubenicek ist ein Kostja, dem man die Inbrunst seiner künstlerischen Überzeugungen und seiner Treue zu Nina sofort abnimmt.

Immer wenn Neumeier in dieser Inszenierung nicht zitiert und bei sich bleibt, wird es eindrucksvoll. Als endlich nach der Pause die vielschichtigen Handlungsstränge abgetanzt und die glamourösen Revuevorführungen im Moskauer Traditionsballett abgehakt sind, wird es spannend und stringent. Nun konzentriert sich Neumeier auf die einzelnen Lebens/Liebestragödien der Paare und kann ihre Enttäuschungen und unerfüllt bleibenden Wünsche fühlbar machen. In seinem unverwechselbaren Stil der zuckenden Verrenkungen, der kantigen Bewegungen, des Aneinander-Vorbei-Tanzens, der halben, unfertigen Gesten, die in der Luft ziellos verharren, drückt er die bitteren Lebensbilanzen der Beteiligten gekonnt aus. Literaturballett bleibt ein schweres Unterfangen. Die Versuchung zu viel von der textlichen Vorlage getreulich umsetzen zu wollen, ist groß. Auch ein so Versierter wie Neumeier kann ihr noch erliegen.

Birgit Schmalmack vom 14.10.02