Dog eat Dog



www.hamburgtheater.de

Fast wie im wirklichen Leben

So spielen Kinder "Stadt". Sie malen wie im Thalia in der Gaußstraße die Straßen mit Kreide auf das Pflaster und markieren mit Klötzen die Häuser (Bühne: Petra Winterer). Dann kann das wirkliche Leben erprobt werden.

Serkan (Andreas Döhler) und Tom (Josef Heynert) kennen alle Spielregeln schon ganz genau, die das Leben in der Baumheide, einer Hochaussiedlung nahe Bielefeld bestimmen. Sie sind Türsteher vor dem Hip-Hop-Schuppen "Das Glashaus" und als solche mit je zwei tauglichen Augen und Fäusten ausgestattet. Sie wissen, wie man cool und allzeit bereit zum Angriff vor dem Eingang steht und auch sonst im harten Lebenskampf steht. Marko (Jörg Kleemann), den Grünling, müssen sie noch anlernen, eher er zu ihresgleichen aufsteigen könnte. Victor (Marko Gebbert) hat für seine häufigen Besuche des Glashauses andere Gründe als die miniberockten Mädels, die aufgebrezelt nach dem männlichen Angeboten Ausschau halten. Victor macht Geschäfte, mal mit Drogen, mal mit Waffen. Um klarzumachen, dass er eine ganz andere Klasse als die beiden Wenigverdiener an der Tür ist, trägt er eine Anzugjacke mit Clubabzeichen und keine Baseballjacke wie Serkan. Blondchen Ziska (Anna Blomeier) wackelt brav hinter Victor her und gibt Küsschen, wenn er in der Nähe ist. In den Zwischenzeiten bietet sie ihre Dienste auch gerne den noch besser zu beeindruckenden Marko an. Lilly (Xenia Snagowski) dagegen hat es die scharfe Tätowierung von Tom angetan. Auch die orange Fellweste, die seine Muskeln gut zur Geltung kommen lässt, wird ihr Übriges getan haben.

Einzig Pola scheint etwas ganz besonderes zu sein: Sie liest Shakespeare und steht jeden Abend an der Bushaltestelle, um dem Bus, der nach Süden an das Meer fährt, hinterher zu schauen. Das macht Serkan neugierig. Zum ersten Mal erlaubt er sich an einen Ort zu denken, wo er sein kann, wie er will, an einen Ort ohne Geschichte, wo er keinem mühsam erarbeiteten Image verpflichtet ist. Er bietet ihr die gemeinsame Fahrt ans Meer an. Sie nickt.

Doch dazu kommt es nicht mehr: Wie in den viel zitierten Aktionfilmen gehört zum Lebensspiel mittlerweile eine Waffe dazu. Tom will seinen Sandkastenkumpel Serkan nicht verlieren und benutzt sie. Aus dem Spiel wird bitterer Ernst: Die Spielzeugpistole tötet Pola. "Es ist ohnehin überall gleich. Da kann man auch gleich hier bleiben", tröstet er Serkan.

Annette Pullen inszeniert "Dog eat dog" von Nuran Calis, das schon im Zuge der Autorentheatertage zur Aufführung kam, als grellbunten, comichaften Film mit vielen schnellen Schnitten zu lauter HipHop-Musik. Calis Text, der den Ghetto-Ton der Vorstadtjugendlichen gut trifft, wird von Pullen noch verschärft, indem sie ihn durch ironische Übertreibung der Gestik, Mimik und des Tonfalls als rollenverhaftet, vordergründig und als Überdeckung der Ausweglosigkeit und Unsicherheit enttarnt. Susanne Wolff glänzt in ihrer Rolle als Pola, die den anderen einen Blick aus der Vorstadtsiedlung hinaus und ein Infragestellen der Regeln ermöglicht. In ihrer differenzierten Interpretation lässt sie spüren, dass ihre selbstbewusste Andersartigkeit mühsam aus der Not erkämpft ist und sie weiß, wie gefährlich sie ihr werden kann.

Birgit Schmalmack vom 15.10.03