Fehlende Schnittmenge

Die berühmte polnisch-russische Tänzer-Legende Nijinski begeistert die Zuschauer immer noch, und zwar in der Choreographie von John Neumeier, die er 2000 - fünfzig Jahre nach seinem Tode - herausgebracht hat. Neumeier versucht sehr viel in diesem rasanten Abend unterzubringen: In schnell wechselnden Kulissen und Kostümen zeichnet er wichtige Abschnitte Nijinskis Lebens nach, verwebt Zitate aus Nijinskis Choreographien, aus seinen Rollen beim Russischen Ballett mit Episoden aus seiner Biographie.

Neumeier rollt das Geschehen von hinten auf. Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte der mittlerweile an Schizophrenie Erkrankte (Alexandre Riabko) im Suvretta-Haus, einem Hotel in der Schweiz. Dessen Kulisse setzt das Anfangs- und Endbild der Inszenierung, für die Neumeier auch die Bühnengestaltung übernahm. Nijinski gibt unter den bestenfalls mitleidigen Augen der anwesenden Gäste einen Einblick in seine von Kriegserlebnissen verstörte Weltsicht. In abgehackten, verstörenden Bewegungen legt er sein dunkles Innenleben für einen kurzen Augenblick frei, bis er nach verlachenden Unverständnisäußerungen wieder auf eine seiner süßlichen, verschnörkelten und beliebten Rollen zur allgemeinen Freude zurückgreift. So will ihn sein Publikum haben, so und nur so versteht es ihn.

Neumeier lässt nach dieser bitteren Erfahrung, bei der Nijinskis Ehefrau (Anna Polikarpova) zuschauend mitleidet, die prunkvolle Architektur der Hotelhalle aufbrechen und taucht in das nur zehnjährige pralle Leben des Tänzers ein. Als Dekoration reichen ihm jetzt ein oder zwei weiße Kreise.

Der Leiter der Tourneecompagnie "Ballets Russes", Diaghilew, spielt eine große Rolle in Nijinskis Leben. In einer gleichfalls liebenden und fordernden Beziehung bestimmt er wichtige Punkte seiner Entwicklung. Nijinskis Ehefrau Romola de Puszky, ebenfalls Tänzerin, wird immer wieder in die passive Beobachterrolle gedrängt. Doch während Diaghilew sich nach der kurzen Erfolgsphase zurückzieht, bleibt Romola treu an der Seite ihres Gatten. Künstlerisch herausragen kann Nijinskis verrückter Bruder. Yukichi Hattori tanzt ihn so eindrucksvoll und ausdrucksstark, dass er mit seinen kurzen Auftritten fast die Hauptfigur aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verdrängt. Das mag aber auch darin liegen, dass Neumeier bei ihm seinen tänzerischen Aussagen ganz nachgehen darf, ohne auf historische Einschübe Rücksicht nehmen zu müssen.

Die Stärke und Schwäche dieser Choreographie liegen eng beieinander. Neumeier erschafft ein nie langweiliges Kaleidoskop aus verschiedenartigsten Erinnerungen. Dadurch erzeugt er einen spannenden Sog aus immer neuen Szenen und verwobenen Handlungssträngen. Gleichzeitig lässt er den ersten Teil des Abends aber auch durch seine fehlende klare Linie fast in eine vorrüberrauschende Revue der Eindrücke abgleiten. Zum Glück gelingt es ihm im zweiten Teil nach der Pause wesentlich mehr Stringenz zu zeigen. Die Ereignisse des Krieges sind jetzt der bestimmende Hintergrund des tänzerischen und privaten Lebens und bilden die Verbindung der gezeigten Elemente.

Nicht immer kreisrund ist dieser Abend, aber damit eine passende Abbildung des Lebens der gefeierten Tanzlegende in turbulenten Zeiten. Schnittmengen der zwei Neonkreise aus Privat- und Berufs-, aus Männer- und Frauen-, aus Vorkriegs- und Nachkriegs-Leben gibt es für Nijinski nur kurzfristig, dann kippt sein Lebenskreis wieder und liegt vor ihm auf dem Boden. So zeigt Neumeier im Schlussbild die aufgesprengte Hotelhalle zusammen mit den zwei über ihr schwebenden Kreisen. Zusammen passen können sie nicht. Nijinskis Leben bleibt bei aller Brillanz ein Nebeneinander von Unvereinbarem, wie das Bühnenbild.

Birgit Schmalmack vom 30.6.02