Die Sehnsüchte von Parasiten

Schlaglichter auf das Parasitäre des Menschen wirft in beeindruckender Weise die Inszenierung von Hannah Steffen, die als Züricher Gastspiel im Rahmen des Theaterfestivals "Die Wüste lebt" im Amerikahaus zu sehen war. Alle Gestalten dieses Stückes sind dem alltäglichen Leben enthoben. Sie führen, von ihren Sehnsüchten nach Nähe getrieben, ein ausschließlich auf sich selbst und ihr Gegenüber bezogenes Dasein. Eingeschlossen in einem Raum proben sie die tatsächliche Begegnung und erfahren doch immer nur die totale Einsamkeit, die in dieser Begrenzung zur unerträglichen Bürde wird.

Ringo (David Allers) sitzt seit einem Unfall, den der alte Mann Multscher (Albi Klieber) verursacht hat, querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Seine Freundin Betsi (Johanna Bantzer) hat ihm versprochen, immer bei ihm zu bleiben und versucht tapfer dieses Versprechen zu halten. Doch Ihr "Kleiner", von seiner eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit erschüttert, lässt seinen Unmut an seiner einzigen Bezugsperson aus, wo er nur kann. Sie erträgt alles in grenzenlosem Verständnis für sein Unglück. In dieses klaustrophobisches Verhältnis bricht Betsis Schwester Friderike (Pilu Lydlow) nach einem missglückten Selbstmordversuch ein. Die zur Helferin erkorene Betsi in ihrem adretten Krankenschwesterkittel und mit dem eingefrorenen Lächeln im Gesicht teilt ihre Aufmerksamkeit nun zwischen den zwei vom Leben Gebeutelten auf. Beide wittern im jeweils Anderen die Personifizierung ihrer eigenen Unzulänglichkeiten und attackieren sich mit letzter Kraft. Betsi schwebt als selbstberufener Friedensengel über beiden. Da kommt der Unfalltäter Multscher, der sein schlechtes Gewissen beruhigen will, für Ringo gerade recht. Noch jemand, der aufgrund der Umstände an ihn gefesselt ist und ihm zu Diensten sein muss. Dass Multscher durchaus eigene Interessen hinter seinen Besuchen verbirgt, wird Ringo nur langsam klar. Multscher glaubt, dass man heutzutage schon jemanden halb tot fahren müsse, um ihm nahe zu sein. Doch der Mikrokosmos der Abhängigkeiten ist noch nicht ausgefüllt: Friderikes Freund Petrick kann nicht mehr ohne seine abgemagerte, mit seinen Beleidigungen zugeschüttete Ex-Freundin schlafen und kampiert nun notgedrungen auf der Fußmatte vor der Haustür.

Marius von Mayenburg hat mit seinem Text ein fein strukturiertes Meisterwerk geschaffen, dass Beziehungsnotstände in einem Raum auf die Spitze treibt und dabei sauber seziert. Er verhindert aber geschickt einfache Erklärungen und macht so sein Stück bedrückend universell. Alle diese Personen sind so bemüht, einander nahe zu sein, einander geglückte Tage zu verschaffen, miteinander ihre Träume endlich zu erleben, dass sie verstrickt in ihre Riesenerwartungen und widrige Umstände scheitern müssen und in die Verzweiflung gestürzt werden. Durch ihre exzellenten Darsteller schafft es Hannah Steffen mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und Schlichtheit alle diese Aspekte zu zeigen. Sie führt Mayenburgs Intention noch weiter, indem sie die Geschichte von einem bestimmten sozialen Milieu unabhängig macht.

Um den Abend nicht ganz in Hoffnungslosigkeit absinken zu lassen, kippt sie zum Schluss eine süßliche Schlagersoße über das angerichtete Elend. Immer auf der Suche nach Möglichkeiten das unerträgliche Leben mit Künstlichkeit zu überzuckern, geben sich Betsi und Melchert gerne der kurzfristigen Freude hin, indem sie leise bei "Merci, dass es dich gibt" mitsummen.

Birgit Schmalmack vom 5.7.02