Eine kleine Verschiebung der Normalität

Eine spätpubertierende Göre und ihr schüchterner Bruder  versuchen sich selbst und den Zuhörern einen Vorfall zu erklären, der ihrem Leben eine unerwartete Veränderung verpasste. Sie befinden sich in einen Wohnzimmer, dessen Möbel unter Plastikplanen geschont aufbewahrt werden. Setzen sich sie auf das Sofa, entsteht der Eindruck von Kindlichkeit, da es mit einem Podest so erhöht wurde, dass ihre Beine nicht auf den Fußboden reichen. Der einzige Gegenstand, der ohne Plastiküberzug benutzt wird, ist die Stereoanlage. Sie spielt dann auch eine besondere Rolle in der Erzählung der Geschwister. Jeden Sonntag wurde in der idyllischen Familie der Beiden zweieinhalb Stunden Verdi gelauscht. Der Vater, ein Emporkömmling von ganz unten, war nämlich sehr bedacht auf die exquisite Bildung seiner Kinder. Die Mutter durfte dabei ruhig in der Küche ihre Pflichten als Hausfrau erfüllen. Bei jeder nicht ganz geklärten Frage wurde der Wohnzimmerschrank geöffnet und der entsprechende Band des großen, dort untergebrachten Lexikons herausgezogen und die umfassende Antwort vorgelesen. Der Vater nahm sich schließlich Zeit für seine Kinder. Nach dem Verzehr eines Sonntagsbratens mit den obligatorischen Pommes Frites ging es auf eine nette Fahrt ins Grüne.

Ein Bilderbuchfamilienleben könnte man meinen, doch eines Abend - die Feier einer anstehenden Beförderung steht auf der Tagesordnung - verspätet sich der sonst so pünktliche Vater ein wenig. Die Mutter zeigt nicht die von den Kindern erwartete Reaktion; stattdessen breitet sich Erleichterung und Freude auf ihrem Gesicht aus, sie öffnet eine teure Flasche Spätlese, verlangt nach den schönen Gläsern. Langsam fangen die völlig irritierten Kinder an zu erzählen. Hinter der Saubermannfassade konnte der Vater, auf den sie nur gelernt hatten stolz zu sein, seine despotische Rolle weinig bewundernswert ausnutzen. Als es dann endlich klingelt, greift sonst so passive Mutter zu unerwartenden Mitteln.

Hanna Rudolph hat mit ihren zwei Darstellern Tini Prüfert und Stefan Düe den Roman "Das Muschelessen" von Birgit Vanderbeke in ein Gespräch der beiden Kinder umgewandelt und dort weitergedacht, wo er aufhört. Der anfängliche Auftritt der Beiden irritiert. Der Bruder hebt unsicher am Ende jeder seiner kurzen Sätze die Stimme, die Schwester wirft sich platzgreifend, breitbeinig in ihrem karierten Rock auf die Sitzmöbel. Doch je länger sie von ihrem scheinbar so vorbildlichen Familienleben berichten, wird klar, warum sie so gewollt locker-optimistisch-extrovertiert oder überlegt-zurückhaltend-introveriert. Hinter ihren Fassaden tauchen ein Junge und ein Mädchen auf, die so stark von ihrer Kindheit geprägt sind, dass sie als Rebellion zunächst nur die genau entgegengesetzte Rolle einzunehmen vermögen um später wieder in die kopierte Muster der folgsamen Mutter und des tyrannischen Vaters zurückzufallen.

Für die Aufführung wurde eine ungewöhnlich schmaler und tiefer Bühnenzuschnitt gewählt. So wird der Zuschauer zu einem Tunnelblick auf die Möbelansammlung mit den spotbeleuchteten kleinen Menschen zwischen ihnen gezwungen. Die gewollt heitere Stimmung des Anfangs schlägt bald in düstere Vorahnungen um, die aber nur aus Nuancen des Blick und des Tonfalls zwischen den beiden einfühlsam agierenden Schauspielern entstehen. Eine sehr schlichte und darum umso spannendere Inszenierung im Rahmen des Theaterfestivals im Amerikahaus.

Birgit Schmalmack vom 7.7.02