Zwillingsbrut


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Fassadenschieberei

Grasgrün steht für Frische, Frühling, Aufblühen und Neuanfang. Neben einen unschuldigen Weiß ist es die vorherrschende Farbe im Bühnenbild und bei der Kleidung zu "Zwillingsbrut" in dem Kontraste-Programm des Winterhuder Fährhauses. Doch das Leben der Personen gleicht eher einem Komposthaufen. Schimmeliges Dunkelbraun wäre angemessener. Sie haben alle schwer an ihrer Vergangenheit zu tragen, die alles Neue verwesen lässt.

Die Zwillinge Bernadette (Ann-Cathrin Sudhoff) und Sebastian (sehr vielschichtig: Tilman Günther) sind die "Brut" der Vergewaltigung ihrer damals 17-jährigen Mutter. Nur durch Verdrängung der Vergangenheit und ihrer Gefühle schaffte sie es, die Power für eine Karriere als erfolgreiche Immobilienmaklerin zu finden. Diese Erziehung ist nicht spurlos an ihren Sprösslingen vorbeigegangen.

Bernadette sucht ihren Weg in der Rolle als schwache Blondchen-Ehefrau, die ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit von ihrem gut verdienenden Ehegatten durch hysterische Heulanfälle immer wieder unter Beweis stellt. Sebastian hat nach dem Aidstod seines Geliebten den Weg seiner Mutter eingeschlagen: Zur Verhinderung von weiteren Liebesleiden hat er seine Gefühle auf Eis gelegt. Dass er zudem als freier Journalist kaum Aufträge und somit Ebbe in seinem Portemonnaie zu beklagen hat, verbessert seine Lage nicht. Diese Probleme würden als Stoff für ein Theaterstück sicher ausreichen. Doch für Autor Nicky Silvers Weltsicht der amerikanischen Gesellschaft scheint diese Zusammenstellung noch nicht deprimierend genug. Er gesellt den Beiden weitere Stadtneurotiker hinzu: Sebastians Therapeutin (Doris Prilop) sucht ihr Seelenheil nach einer religiösen Erleuchtung in der Selbstverstümmelung. Bernadettes Ehemann Kip (Axel Buchholz) begibt sich auf eine innere Reise zu seinem leeren Selbst als Maler völlig weißer Bilder. Und der Sebastians inhaftierter Brieffreund Dylan (Jürg Prüss) outet sich als brutaler Mörder, der völlig grundlos einen Menschen tötete.

Silver tut sein Möglichstes um den modrigen Untergrund hinter der cleanen, sauberen Fassade der amerikanischen Mittelschicht deutlich werden zu lassen. Die tiefen Nöte der Personen sollen deutlich werden, was Tilman Günther am besten gelingt. Regisseur Frank-Lorenz Engel hat weitestgehend darauf verzichtet, die Abgründe auch noch zu bebildern. Die äußere Hülle bleibt sauber. Bernadettes Frisur und das grüne, mittlerweile Kostümchen sitzen bis zum Schluss perfekt. Diese Fassade wird nur von der Therapeutin hinterfragt, die ihre Kleidung langsam verkommen lässt. Engels Inszenierung erlaubt das Auflachen über den bitterbösen, schwarzen Humor und hinterlässt eine beruhigende Erleichterung über die eigene relative Problemlosigkeit.

Birgit Schmalmack vom 12.10.04