Fluchtpunkt, Vier Millionen Türen


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Träume vom ganz anderen Leben

Der Eintritt in die spärlich möblierte Wohnung der drei Schwestern findet durch einen der vier Kühlschränke statt. Auch der Neuzugang der Rest-Familie in Jessica Goldbergs Stück "Fluchtpunkt", der neue Verehrer von der ältesten Schwester und Ersatz-Mutter Amy, Sam, tritt so in das Chaos-Trio ein. Das so entstandene Quartett versucht nach Kräften die heile Familie nachzuspielen, die sie aus der Abbildung des realen Lebens bei ihrer täglichen Dosis Soap-Opera kennen. Doch nur beim Zusammentreffen auf dem gemütlichen Blümchen-Sofa und gemeinsamen Nachsingen der Trailer können sie ihre Probleme zeitweise übertünchen. Denn die Jüngste ist drogenabhängig und die Mittlere gerade aus der Psychiatrie entlassen. So hängt die ganze Verantwortung an Amy, da sich die Eltern nach Kalifornien davongeschlichen haben. Kühlschränke haben bei diesem Schwesternhaushalt so nicht nur eine symbolische Bedeutung sondern auch eine praktische: So geht der gekühlte Vorrat an Cola-Dosen nie aus. Fast-Food der bekannten amerikanischen Kette und Chips vervollständigen ihren Essensplan. Die vier Darsteller der Theater-Hochschule Zürich (Sarah Frick, Sophie Hottinger, Tatjana Steinbichl, Marco Zbinden) balancieren äußerst gekonnt unter der Regie von David Bösch zwischen Komik und Dramatik.

Ebenso gezielt lenkt Eike Hannemann von der Berliner Hochschule Ernst Busch das Spiel der vier vermeintlichen Assessementcenter-Kandidaten (Matrtin Molitor, Christian Banzhaf, Tjadke Biallowons, Sven Philipp), die im Vorzimmer eines Unternehmens zu einem Bewerbungsgespräch zusammen treffen. Stellvertretend für die vier Millionen Arbeitslose und den erhofften oder verschlossenen Eintritt in ein neues Arbeitsleben stehen vier Türen auf der Bühne, die durch Sparring-Seile miteinander verbunden sind. Meisterlich wird die gewollt optimistische und spannungsgeladene Realität einer Bewerbungssituation durch den brillant formulierten Text von Thomas Melle und Martin Heckmanns in "Vier Millionen Türen" auf die Spitze getrieben und immer wieder zum Kippen gebracht. Für detektivische Spannung ist bis zum Ende und sogar darüber hinaus gesorgt, da die entgültige Auflösung der dahinterstehenden Lebensgeschichten geschickt in der Schwebe gehalten wird.

Beide Siegerstücke des "Körber Studio Junge Regie", die im September 2003 im Thalia in der Gaußstraße gekürt wurden und jetzt zu einer weiteren Aufführung im Theater Haus im Park in Bergedorf kamen, setzen auf einen fundierten Text und prägnante Darstellerkunst. Ihr Handwerk haben beide Regisseure in ihrer Hochschulausbildung gelernt. David Bösch machte mit "Fluchtpunkt" zu Recht den 1. Platz, weil in seiner Inszenierung noch mehr innovative Kreativität und ausprobierender Mut zu spüren war.

Birgit Schmalmack vom 24.01.04