Nora


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Bilderbuchfamilie

Stephan Kimmig kann auch anders! Das bewies er mit der Inszenierung von Ibsen "Nora" an diesem Wochenende im Thalia Theater. Nicht assoziativ wie "Viel Lärm um nichts", nicht leicht surreal wie in "Republik Vineta", nicht verstörend wie in "Nicht in den Mund" sondern streng naturalistisch und psychologisch analysierend entwickelte er die Geschichte um eine Frau, die ihr Leben dem Erfüllen von Erwartungen gewidmet hat und dafür auf die Entschädigung durch Glück wartet. Alles scheint dafür geklärt: Der erfolgreiche Gatte hat den ersehnten Posten als Bankdirektor ergattert, das durchgestylte, marmorne, superschicke Haus ist bezogen, die Kinder sind süß und das Ehepaar säuselt sich Zärtlichkeiten ins Ohr. Alles könnte so schön sein, wenn da nicht die kleinen Untertöne wären. Mit Sinn für diese spielen Susanne Wolff und der um einen Kopf kleinere Norman Hacker das hübsche, nervöse Püppchen und den markigen Aufsteiger mit Männlichkeitsallüren. Immer wieder zieht Nora heimlich an ihrer Zigarette oder greift zur Wasserflasche, um in ihrem Lebenslügengespinst den Überblick nicht zu verlieren. Um ihrem Mann eine lebensrettende, aber teure Kur zu ermöglichen erschlich sie sich nämlich vor acht Jahren von einem windigen Anwalt (Stephan Schad) einen Kredit mit der Fälschung der nötigen Bürgschaftsunterschrift. Der Anwalt droht nun mit der Aufdeckung, falls er von dem Ehemann keinen ansprechenden Posten in seiner Bank erhält.

Sehr ruhig und langsam wird zu flirrenden, leisen Klängen die Spannung um das drohende Zusammenbrechen der idyllischen Illusion vom Eheglück aufgebaut. Die klaren Linien der wenig anheimelnden Wohnung (Bühne: Katja Haß) bilden den cleanen Saubermannhintergrund für die Bilderbuchfamilie. Doch die unerklärliche Linoleum-Welle im Fußboden verrät, dass hier einiges im Untergrund verborgen ist und hoch kommen wird.

Nora überlässt es dem Anwalt ihr Geheimnis aufzudecken und beobachtet abwartend die Reaktion ihres Mannes. Sie fällt wie befürchtet mickrig, wenig großherzig und gar nicht liebevoll aus. Da er seine Karriere vernichtet glaubt, verdammt er die Verursacherin. Als sich diese Befürchtung in Luft auflöst, mutiert er in Sekundenschnelle zum verzeihenden Liebhaber. Doch Nora ist nach Erkennen seines wahren Gesichtes wild entschlossen ihn zu verlassen. Sie genießt ihren Entschluss solange er tobt, ein paar Tränen vergießt, droht, bittet und lockt. Sobald er resignierend ins Bett gehen will, ist ihre Entschlussfreudigkeit erlahmt und sie wagt nicht den Schritt durch die Haustür sondern nur durch die Terrassentür. So steht sie hinter der Panoramascheibe und raucht eine ihrer Besinnungs-Zigaretten. Ob sie ihr zu mehr Erkenntnis verhelfen werden als die Jahre zuvor bleibt sehr fraglich. Die materiell umsorgte, gesellschaftlich angesehene Schein-Idylle ist vielleicht immer noch besser als die unsichere Einsamkeit ohne Absicherung durch Ehemann, Einkommen, Haus und Ansehen?

Höchst aktuell, ohne Schnörkel konzentriert sich Kimmig auf die psychologische Herausarbeitung der Figuren. Er kann sich dabei voll auf die herausragende Qualität der Thalia Darsteller verlassen. Bemerkenswert ist auch die Entwicklung in den Nebenrollen: Von einem verhuschten Niemand wird Noras Freundin Christina (Victoria Trauttmannsdorff) zu einer analytisch denkenden Beobachterin, die klar das Notwendige erkennt und benennt. Der in Nora verliebte, krebskranke Arzt (Christoph Bantzer) ist der intelligente Zyniker, der im Angesicht des nahen Todes nicht vor eindeutigen Angeboten an seine Angebetete zurückschreckt. So ist Kimmig in der zeitgemäßen flotten Übersetzung von Karasek und Greiffenhagen eine Umsetzung des 120 Jahre alten Stückes gelungen, die ganz in Ibsens Sinne sein dürfte. Hier hat sich der Regisseur mit seiner Herangehensweise an ein Stück einmal ganz auf die Linie des Autors begeben.

Birgit Schmalmack vom 15.9.02