Der Rhythmus des Alters

Die alte Frau schlurft leicht vorgebeugt mit sichtbarer Anstrengung durch ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Die 72-jährige Martha Jellneck leidet an fortgeschrittener Arthrose, die ihre kleine Lebenswelt auf die Etagenwohnung im dritten Stock beschränkt. Der Zivildienstleistende Thomas (Markus Mössmer), der das Essen auf Rädern vorbeibringt, und die Nachbarin Hanne (Anneke Kim Sarnau), die das Gassi-Tragen des alten Hundes Afra und gelegentliche Besorgungen übernimmt, strukturieren ihren ansonsten abwechselungslosen Tagesablauf. Die bescheidene, anspruchslose und stets aufgeräumte Wohnung (Ausstattung: Maren Christensen) scheint gut zu ihrem Charakter zu passen. Gewohnt wenig für sich zu fordern, nimmt sie ihren beschränkten Aktionsradius klaglos hin. Als sie allerdings durch Thomas von einem weiteren Kunden des Essensservice hört, der zufälligerweise genau so heißt und dasselbe Geburtsdatum hat wie ihr im Krieg verschollener Bruder, aber ihm gar nicht ähnlich sieht, bekommt ihr Interesse und ihre Energie ungewohnte Antriebskräfte. Ohne sich aus ihren vier Wänden zu bewegen, schafft sie es die Identitätsfälschung des ehemaligen SS-Hauptmannes auf Kosten ihres geliebten Bruders zu enttarnen und einen wagemutigen Racheplan zu entwickeln.

Kai Wessel, der schon vor 15 Jahren den Film mit Heidemarie Hatheyer in der Hauptrolle drehte, inszenierte jetzt die beschauliche Detektivgeschichte an den Kammerspielen. Das Premierenpublikum feierte Regisseur und Schauspieler mit freundlich-begeistertem Applaus.

Wessel macht den Rhythmus des Alters auf der Bühne durch langsame, sich wiederholende Sequenzschnitte deutlich. Um die Geduld des Publikums durch die Langatmigkeit ihrer täglichen Rituale nicht zu überfordern, sorgt er durch die betont jugendlichen Besucher ihrer kleinen Welt und den altersschwachen, aber noch lebendigen Dackel Afra für die gewünschten Aufheiterungen. Leider gefährdet er so auch immer wieder die gerade aufgebaute, stille Atmosphäre. Zum Glück spielt Barbara Nüsse die Hauptrolle mit einer so unglaublichen Bühnenpräsenz, dass sie die kleinen Unebenheiten leicht vergessen lässt. Barbara Nüsse weiß mit jedem ihrer wenigen Worte, mit jeder ihrer von Schmerzen sprechenden Geste und mit jeder ihrer zaghaften Bewegungen so viel über das Innenleben dieser Frau auszusagen und so intensiv zu berühren, dass dieser Theaterabend durch ihr Spiel noch lange nachwirkt.

Birgit Schmalmack vom 24.02.04