Wortgefechte auf höchstem Niveau

Ben ist in seinem Riesenbett versunken und somit für den Zuschauer genauso abgetaucht wie für seine Geliebte Abby. Sie ist eben zur Tür ihres Appartements in ihrem schicken Karriere-Outfit hereingestöckelt und sogleich in dem matratzendicken Boden eingesunken. Genauso weich und schallschluckend sind die weißen Wände des Theaterraumes, den das Deutsche Theater Berlin für ein Gastspiel im Thalia Theater aufgebaut hat. Sie lassen ein schwarzes Loch der Leere in der Rückwand und ähneln somit dem weißen Fernseher auf dem Fußboden, den Ben die ganze Zeit laufen lässt.

Es ist nämlich einen Tag nach dem 11. September in New York. Das Attentat bescherte Ben die einmalige Gelegenheit zum Abseilen aus seinem bisherigen, anstrengenden Leben mit Frau und zwei Kindern. Er hatte einen Termin in einem der Tower, den er aber nicht wahrnahm, weil er lieber auf einem Sprung bei seiner heimlichen Freundin vorbeischaute. So kommt er mit dem Leben davon und sieht darin einen Schicksalswink um sich vor allen möglichen Auseinandersetzungen mit seiner Familie zu drücken. Abby will er das als große Chance zum gemeinsamen Neuanfang verkaufen. Doch sie ist ein wenig zu clever, um sich von dieser plötzlich aufwallender, wenngleich verlockender Romantik einfangen zu lassen.

So geraten die 90 Minuten von "Tag der Gnade" zu einem sprachlich gekonnten und gewitzten Schlagabtausch, in dem sie genuss- und leidvoll gegenseitig ihre Fassaden demontieren und die lang gehegten und gut verborgenen Sehnsüchte, Wünsche, Egoismen, Vorwürfe, Verletzungen an die Oberfläche zerren. Das ist Unterhaltung auf höchstem Niveau, denn die beiden Schauspieler Dagmar Manzel und Robert Gallinowski loten alle Feinheiten ihrer Rollen aus. Dabei ist die Figur der Abby noch ertragreicher. Dagmar Manzel weiß wunderbar die plötzlichen Brüche zwischen karrierebewussten Machtstrategien, weiblichem Bedürftigkeitsgehabe und echten Verletztheit herauszuarbeiten. Ben gleicht dagegen eher dem großen, liebebedürftigen Jungen, der gewohnt ist sich die größten Stücke des Lebenskuchens ohne Energieaufwand nehmen zu dürfen, aber gleichzeitig von allen gelobt und gestreichelt werden will.

Birgit Schmalmack vom 26.10.04

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