Bloß nichts verpassen!

In einer betonfarbenen Gummizelle (Bühne: Katja Haß), deren wärmespendende Heizkörper unerreichbar an der hohen Decke angebracht sind, begegnen sich die Personen in "Stella", Goethes Schauspiel für Liebende in der Inszenierung von Stephan Kimmig, das Ende letzter Woche in einem Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin im Thalia Theater zu sehen war. Getrieben von einer Gier nach den großen Gefühlen ist Fernando (Sven Lehmann) unterwegs von der einen Frau zur nächsten. Fand er die große Liebe zunächst bei seiner Frau Cäcilie (Corinna Harfouch) und ihrer gemeinsamen Tochter Lucie (Ellen Schlootz), sucht er den neuen Kick nach der Einkehr des Alltäglichen und der Wiederholung bei der aufregend jungen Stella (Petra Hartung). Als das mit ihr gezeugte Kind nach der Geburt stirbt, erinnert sich Fernando an seine ursprüngliche Familie und verlässt die trauernde Stella, die sich fortan mit sinnstiftender Wohltätigkeit von ihrem Schmerz ablenkt. Als Fernandos Suche nach Cäcilie erfolglos bleibt, da sie inzwischen ihr Haus verschuldet aufgeben musste, kehrt er wieder zu Stella zurück.

Goethes Dramenkonstruktion will es so, dass er gerade dort auf die Gesuchten trifft, weil Cäcilie ihre Tochter Lucie bei der mildtätigen Stella als Hausmädchen unterbringen möchte. So treffen alle "Liebenden" zusammen und lassen den Konflikt um den wankelmütigen Fernando, der sich feige um alle Entscheidungen herumdrücken möchte, umso schärfer hervortreten. Kimmig spitzt ihn noch weiter zu, da er die lächerlichen Elemente der Personen so betont, dass ihre Handlungen mitunter eher komisch als tragisch wirken.

Fernando saust bei ihm mit wehendem Mantel zwischen den beiden Frauen hin und her und ist nur zu leeren Versprechungen in der Lage. Er will auf nichts verzichten und am besten keinerlei Verantwortung übernehmen. Cäcilie zeigt eine Frau, die sich die letzten Jahre ohne ihren Mann anscheinend nur mit Schlafmitteln oder stimmungsaufhellenden Pillen über Wasser gehalten hat. Sie ist fahrig, zickig, labil und stets am Rande des Nervenzusammenbruchs. Stella dagegen fordert wenig, ist erduldend-weiblich, abwartend-liebend und macht es Fernandos "sensiblen" Gewissen umso schwerer sie mit etwaigen harten Zurückweisungen zu verletzen.

Kimmig findet nicht nur für Fernando eine Interpretation, die die Aktualität von Goethes Schauspiel von 1776 beweist, das für seine Zeit schließlich so unannehmbar war, das er den zunächst gewählten Schluss umschreiben musste. Aus seiner zunächst gewählten Lösung einer ménage à trois musste ein Doppelselbstmord werden. Kimmig wählt selbstverständlich das erste Ende, in dem das Sowohl-als-auch der heutigen Zeit vorweg genommen scheint. Nichts verpassen zu wollen in diesem einen Leben ist schließlich das oberste Gebot in der individualisierten Spaß-Gesellschaft. Und die beteiligten Frauen könnten dem Bestseller "Wenn Frauen zu sehr lieben" erliehen sein. Wie im wirklichen Leben bleibt dem distanzierten Beobachter allerdings auch hier verschlossen, was die Frauen an diesem unzuverlässigen Wendehals so anzieht und wider besserer Erkenntnisse festhält.

Birgit Schmalmack vom 2.2.04