Heile Familien-Welt

Die glückliche Rama-Familie sitzt bei Armin Petras nicht auf der Picknickdecke auf der grünen Wiese und strahlt den Zuschauer an sondern auf dem nagelneuen Sofa auf einer ungemütlich schrägen Rampe vor einem dunklen, grauen Holzverschlag. Doch auch in diesem tristen Berliner Underdog-Ambiente grinsen die Beteiligten um die Wette und symbolisieren die heile, glückliche Familie.

Die nicht mehr ganz junge Frau John (Natali Seelig), die vor Jahren ihr Kind verlor und seitdem ohne Nachwuchs blieb, konnte sich von dem ungewollt schwangeren polnischen Dienstmädchen Pauline (Susanne Schwarz) ihr Neugeborenes organisieren und es ihrem Ehegatten als eigenes unterjubeln. Seitdem ist er als überglücklicher Vater aus dem fernen Altona nach Berlin zurückgekehrt, wo er als Maurer Geld verdiente. Jetzt ist die Familie wichtiger. Dass Pauline nach überstandener Geburt doch nicht mehr ins Wasser gehen sondern ihr Kind sehen möchte, stört leider den bisher glückbringenden Plan der Frau John.

Um diese Hauptgeschichte herum hat Gerhard Hauptmann in seinem Stück "Die Ratten" viele weitere angesiedelt, die allesamt von durch Armut und vermeintliche Schande geprägten Schicksalen handeln. Speziell die Frauen sind von letzterem betroffen. Wenn sie unehelich zu Nachwuchs kommen, gelten sie als gefallene Mädchen, und wenn sie ehelich keinen Nachwuchs zur Welt bringen, gelten sie nicht als vollwertige Frauen.

Hauptmann erweitert diese Betrachtungen noch um die "Metaebene" des Theaters: Ein abgehalfterter Theaterdirektor haust samt seinem Fundus im Dachstübchen desselben Berliner Mietshauses. Er zelebriert in seinem Schauspielunterricht die hohe Kunst der Theaterkultur von Lessing und Schiller. Genüsslich nutzt Petras die Gelegenheit sich über den Theaterbetrieb lustig zu machen: mit vielen dilettantischen Theaterszenen im Oberstübchen, Seitenhieben auf die Volksbühne und komischen Selbstironisierungen vom jugendlichen Revoluzzer-Schauspielschüler Spitta (Thomas Schmauser). Dabei findet das wahre Theater nicht in seiner Dachkammer, sondern eine Etage tiefer statt. Wahrhaftigere Geschichten als die von Frau John, der Hure Knobbe, ihrer armseligen Tochter und der sitzen gelassenen Pauline kann man nicht erfinden. Petras widmet sich in ungewöhnlicher erzählerischer Stringenz den Lebensschicksalen dieser Frauen. Er nimmt Hauptmann mit seinem Text in dieser Hinsicht sehr ernst, auch wenn die Darstellung dieses Elends das Publikum nicht mehr so erregen sollte wie noch 1911 zur Uraufführung. Mittlerweile ist man einiges an Reality-Shows gewöhnt. Der zeitweise allzu große Spaß am Klamauk schafft es allerdings das ernsthafte Anliegen ab und zu etwas in den Hintergrund zu drängen und zu beeinträchtigen.

Nichtsdestotrotz findet er beeindruckende Bilder: Da Doppelbesetzungen in dieser Inszenierung eine besondere Bedeutung haben, sind immer sind zwei gegensätzliche Charaktere mit dem/derselben Darsteller/in besetzt: die Sauber-Ehefrau des Theaterdirektors und die Hure Frau Knoppe (beide Victoria von Trauttmansdorff), die schöne Jung-Schauspielerin und die dreckige, armselige Tochter der Hure (beide Katrin Wichmann) oder der treusorgende Herr John und sein krimineller Schwager Bruno (beide Peter Kurth). Stets zeigen sie, was aus dem anderen hätte auch werden können. Wie es für Doppelbesetzungen gehört, sollten sie natürlich zu unterschiedlichen Zeiten während des Stückes dran sein. Nicht so bei Bruno und Herrn John. Beide treten in ihrer letzen entscheidenden Szene, in der es um Leben oder Tod geht, zusammen auf. So muss Doppeldarsteller Peter Kurth während der Szene die identifizierenden Hosenträger immer wieder über- oder entkreuzen und seine langen Haare immer wieder lässig über eine Seite fallen lassen oder ordentlich nach hinten streichen, um den niederträchtigen Anteilen seines Alter Egos mit der Pistole in der Hand Paroli zu bieten.

Auch in der allerletzten Szene findet Petras eine eindrucksvolle Darstellung für das Schicksal der Frau John. Nachdem ihr Bruder Bruno zwar die störende Pauline beseitigt, aber ihr Mann dennoch die Wahrheit herausgefunden hat, kommt die eben Ermordete zusammen mit Frau John auf die Bühne. Wie das personifizierte schlechte Gewissen, das sie sich auch durch Paulines Tod nicht los wird, lenkt diese ihr weiteres Handeln. Von ihr bewegt, stürzt sie sich in den Tod.

Birgit Schmalmack vom 29.3.04