Synthese aus Vergangenheit und Gegenwart

Hell beginnt sie, dunkel endet sie - die Geschichte um Giselle in der Inszenierung von Neumeier an der Hamburger Staatsoper. Doch in der weißen, heiteren Kulisse von Janis Kokkos liegt schon der sichtbare Beweis des dramatischen Ausgangs: Neumeier nimmt den Tod von Giselle schon in der Anfangsszene vorweg. Wenige abgehackte Bewegungen, ein schreiender Mund und weit aufgerissene Augen von Anna Grabka (Giselles Mutter) genügen, um ihrer Trauer um ihre Tochter Ausdruck zu geben. Neben Giselles (Jurgensen) leblosen Körper treten die beiden Männer Hilarion (Dingle) und Albert (Riggins), die ihr Leben bestimmt haben. Der eine ihr ehemaliger, wegen Albert abgewiesener Galan und der andere der neue Liebhaber, der unter falschem Namen auftritt und in Wahrheit der Tochter des Herzogs versprochen ist. Sein Verrat wird Giselle zum Verhängnis werden.

Während der romantischen Momente dieses Abends kommt die traditionelle, harmonische, fließende Choreographie von Coralli, Perrot und Petipa zum Einsatz; doch während der dramatischen Entwicklungen lässt Neumeier seine unverwechselbare Handschrift erkennen. Sensibel hat er der Musik von Adolphe Adam auf der Bühne in Bewegung umgesetzt. Bekommt sie eine bedrohliche Note, findet er neue gebrochene, aufrüttelnde Bewegungen dazu. Fließt sie wohltönend dahin, verlässt er sich auf altbewährten Spitzentanz in wohlgeordneter Reihe.

Kokkos schuf für beides ein wunderbar leichtes, entstaubtes Bühnenbild und lässt sie zu einer Einheit verschmelzen. Wie von Kinderhand ist im ersten Teil mit Buntstiften eine weiße Stadt mit zwei Häusern im Sonnenschein und im zweiten Teil ein dunkler Wald mit weißen gestrichelten Nebelschwaden entstanden.

Die beiden Hauptdarsteller (Heather Jurgensen, Lloyd Riggins) brillieren unter beiden Vorzeichen. In der weißen Phase tanzt Jurgensen eine lebensfrohe, springlebendige Giselle, die sich in der schwarzen zu einer entrückten, unwirklichen Traumfigur wandelt. Riggins beeindruckt durch seine sowohl tänzerische wie auch schauspielerische Ausstrahlung. Ausdrucksstark bleibt Anna Grabka ganz dem Neumeier-Stil verhaftet und gibt ihrer Figur damit eine faszinierende Intensität, die ihr Leid erlebbar macht.

Schön anzusehen ist die Aufführung in den Momenten mit Anleihen aus der Vergangenheit, aber noch intensiver, stärker und berührender wird sie in den Momenten, in denen Neumeier die Verknüpfung zur Gegenwart in seiner einzigartigen Tanzsprache findet.

Birgit Schmalmack vom 4.01.02