Krankheit der Jugend


www.hamburgtheater.de

Bürgerlichkeit oder Selbstmord

Das ist die Frage für die erfolgsverwöhnte und von Männern umschwärmte Desiree (Angela Ascher). Für sie ist die drohende Bürgerlichkeit ein so großes Schreckgespenst, dass sie sich doch lieber für den Freitod entscheidet. Sie meint schon sämtliche Variationen der menschlichen und sexuellen Beziehungen ausprobiert zu haben und hat sie als ungeeignet abgelegt. Sie setzt ihren Spielchen ein Ende. Ihre Freundin Marie (Susanne Wolff) dagegen macht weiter. Obwohl diese Powerfrau gerade ihren mühsam aufgebauten Freund Bubi (Clemens Dönicke) durch die plötzlich entdeckte Attraktivität des Mauerblümchens Irene (eine nie so gesehene, verhuschte Maren Eggert) verloren hat und darauf hin von Daisy getröstet, doch wenig später wieder abgelegt wird. Über den Heiratsantrag des ebenfalls aussortierten Ex Freder (Felix Knopp) kann sie nur noch in trauriges Gelächter ausbrechen.

Stephan Rottmann inszeniert seine Sichtweise auf die "Krankheit der Jugend" von Ferdinand Bruckner als eine Badewannen-Schlacht, bei der die Füllung des Pools statt aus säuberndem Wasser aus schmutzig-klebriger, dunkler Erde besteht. In einer rosa-farbenen Schwimmhalle (Bühne: Robert Schweer) wühlen sie im Schmutz, graben sich bis zur Bewegungslosigkeit ein oder bewerfen sich mit Dreck. Nach der Pause ist über das Erdbecken ein makelloses, weißes Leinentuch gelegt und die Beteiligten sitzen völlig clean in sterilen, weißen Kitteln an einer gedeckten Tafel. Meilenweit voneinander entfernt pflegen sie Konversation und geben sich scheinbar kultiviert. Die Bürgerlichkeit hat ihren Einzug gehalten. Bist du unglücklich, fragt Marie den immer weitere Weinflaschen köpfenden Freder. Sein Ja braucht man nicht, um seine geknickte Haltung zu deuten. Seine Lebensspielereien sind ihm ebenso wie seiner früheren Gespielin Desiree vergangen. Den Mut zum Selbstmord findet er allerdings bei allen vorgegaukelten Revoluzzertum nicht und fasst notgedrungen die bürgerliche Lebensweise mit der patenten Marie ins Auge.

Susanne Wolff verleiht ihrer Figur der Marie eine außergewöhnlich starke Ausdruckskraft. Ihre immer wieder neu geschöpfte Hoffnung auf die nächste, endlich wahrhaftige Beziehung kostet sie soviel Kraft, dass ihr zunächst freundliches, offenes Lächeln immer bemühter wird. Unendliche Traurigkeit liegt in ihren Blicken zu Desiree, als diese schon den Schlussstrich beschlossen hat. Wieder einmal ist alles in Dreck gezogen worden. Wieder einmal ist die Entzauberung eingetreten. Zum Schluss greift auch sie zu Gabel und Messer und passt sich notgedrungen den Konventionen an. Zuviel darf man nicht vom Leben erwarten. Man muss sich mit den Gegebenheiten abfinden. Doch die Müdigkeit ihrer Bewegungen steht in starken Kontrast zu ihren energischen Schritten durch ihr blitzblank gewienertes Erdbad am Anfang des Stückes.

Rottmann gelingt es mit den hervorragenden Schauspielern die Entwicklung ihrer Entzauberung und ihrer Enttäuschung punktgenau heraus zu arbeiten. Warnt die laut aufgedrehte Musik am Anfang noch vor den Gefahren der Liebe, läuft das Tonband in der Ecke am Ende nur noch lautlos mit. Alles Risiko, alle Lebendigkeit, alle Kraft ist aus den Menschen herausgeflossen. Der Schmutz ihres Lebens hat sie zu sauberen, angepassten, ordentlichen Bürgern werden lassen, die sich müde ihren Lebensschicksal ergeben haben.

Birgit Schmalmack vom 2.2.03

www.hamburgtheater.de