Fluchtwege


www.hamburgtheater.de

Davon träumst du

"Nee, da sünd wir schon alle wech", hört man im unverkennbaren Hamburger Tonfall aus dem Flur des FC-St.Pauli-Vereinsheimes am Heiligengeistfeld. Doch vor den geschlossenen braunen Türen findet, während nebenan der normale Tresenbetrieb weiterläuft, zwischen den dunklen, gedrechselten Holzmöbeln unerwarteter Weise Theater statt.

Innerhalb kürzester Zeit - ohne Musik-, Licht- oder Vorhangeinleitung - haben die beiden Darsteller Angela Ascher und Stephan Hornung ihr Publikum gefangen genommen. Kein leichte Übung: Es besteht fast ausschließlich heftig pubertierenden, wahrscheinlich zwangseingeladenen Schülern. Doch sekundenschnell sind alle mittendrin in der Geschichte von Andrea und Riva, die vor Verfolgung und Terror nach Deutschland fliehen mussten. Alle anfallenden Rollen übernehmen die beiden Schauspieler mit beiläufiger, gekonnter Lässigkeit.

Während Riva es schafft in der neuen Umgebung in der norddeutschen Stadt an der Elbe nach vorne zu blicken und neue Freunde zu finden, trägt ihr älterer Bruder zu schwer an der Vergangenheit. Er hält es für Verrat am Andenken seines im Heimatland ermordeten Vaters sich einfach Spaß zu gönnen. Einzig das Kicken mit dem Fußball, den er von seinem Vater geschenkt bekam, darf ihm ein kleiner Trost sein. Er sieht in Deutschland nur Menschen, die ihn nicht wollen. Während Riva sich in ihre Deutsch-Übungsbücher stürzt, stößt ihn die Sprache der Behörden, Formulare und Bestimmungen so ab, dass er lieber schweigt. Als er seine Schwester in seiner Funktion als Vater-Ersatz rügen will, entgegnet sie auf deutsch: "Davon träumst du!" Als er fragen muss, was das bedeute, kann sie ihn leicht austricksen: "Das heißt einfach, dass du Recht hast."

Die beiden brillanten Schauspieler und die phantasievolle, einfühlsame Regie von Carlos Manuel, die mit dem Kleinen, dem Gegebenen gekonnt und effektvoll spielt, macht die Aufführung äußerst sehenswert. Das Lokalkolorit einer altdeutschen, heute öffentlich nur noch in Vereinshäusern oder privat in einigen guten Stuben anzutreffenden Eichen-Seligkeit mit hohem Pseudo-Gemütlichkeitsfaktor inklusive der sprichwörtlichen, biertrinkenden deutschen Normalos als Inventar spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

Birgit Schmalmack vom 4.3.04