Ideal- oder Realpolitik?

Wie aktuell und spannend ein Blick in die Geschichte sein kann, zeigt das Ernst-Deutsch-Theater zur Zeit mit dem "Urteil von Nürnberg". Zum zweiten Mal wird das Stück nach dem gleichnamigen Film von Stanley Kramer von 1961, zu dem Abby Mann das Drehbuch schrieb, in Deutschland aufgeführt. Erst 2002 setzte es das Theater Nürnberg nach einer vom Autor aktualisierten Bühnenfassung für das New Yorker Longacre Theatre auch in Deutschland auf den Spielplan.

Es stellt die Frage nach der Gültigkeit von Rechtsmaßstäben und nach dem notwendigen Maß an realpolitischem Pragmatismus, dem sie unterliegen. Es zeigt die politischen Auswirkungen, die eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte haben kann. Es tut alles an Hand der Nürnberger Prozesse, die in Deutschland zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dienen sollten. Nach den bekannten und berüchtigten Nazi-Größen wurden in einem zweiten Gerichtsverfahren auch die Juristen angeklagt.

Diesem politisch wichtigen Präzedenzprozess sitzt ein vorzeitig abgewählter Provinzrichter namens Dan Haywood (Uwe Friedrichsen) vor. Ohne weitere Karriereaus- und absichten treibt ihn wirkliches Interesse an den unglaublichen Vorgängen in Deutschland an. Er will diese Unmenschlichkeiten, zu denen diese deutschen Menschen in der Lage waren, nachvollziehen können. Im Gegensatz zu seinen Beisitzern und dem amerikanischen Ankläger hat er weder Interesse an einem frühen, gemütlichen Feierabend noch an vorgefassten Vor-Urteilen. So vertieft er sich in die juristischen Schriften des Angeklagten Emil Jannings, die von dessen hohem Gerechtigkeitssinn zeugen. Umso mehr interessiert ihn die Frage, wie ein solcher Charakter zur Unterstützung dieses Irrsinns fähig wurde. Die Ankläger sehen sich nicht den erwarteten einfachen Verbrechern sondern hoch gebildeten Akademikern gegenüber, zu denen ihre anvisierten militärisch klaren Antworten nicht passen wollen.

Durch kurze, prägnante Szenen mit wohldosierten Informationen bewahrt das Stück den Zuschauer, der schon alle unappetitlichen Details zu kennen glaubte, vor voreiligen Schlüssen. Immer neue Darstellungen und Argumente werden sowohl vom jungen, überaus engagierten Verteidiger Rolfe (Lutz Herkenrath) wie auch dem amerikanischen Ankläger Colonel Parker (Oliver Warsitz) vorgebracht.

Die politischen Entwicklungen von 1947/48 tun ihr Übriges, um in der zweiten Hälfte nach der Pause noch weitere Gesichtspunkte einzubeziehen: Die Aktionen der Sowjetunion machen die Luftbrücke zum abgeschnittenen Teil Berlins notwendig und erfordern Reaktionen auf deren Inanspruchnahme Tschechiens. Der Feind scheint nicht mehr vordringlich in Deutschland zu sitzen sondern aus dem Osten zu kommen. Mit versammelter Energie heißt es jetzt sich gegen ihn zu Wehr zu setzen, zur Not mit Hilfe der Deutschen. Die Deutschen nahmen dieses Angebot der möglichen Rehabilitation bekannter Maßen gerne an. Richter Haywood kann es sich als einziger leisten solche Gedanken außer Betracht zu lassen und pocht in seinem kompromisslosen, harten Urteil auf den Bestand eines ethisch fundamentierten Rechts.

Die Ankläger werden von Abby Mann ebenso unter die Lupe genommen wie die Angeklagten. So dürfen die Amerikaner Überlegungen darüber anstellen, ob sie sich demnächst wohl auch wegen militärischer Aktionen vor den einem Gericht verantworten müssten. So lässt diese nie einseitige, nie betuliche, äußerst sensible Regiearbeit von Johannes Kaetzler aktuelle Zeitbezüge stets zu, ohne sie jedoch konkret ansprechen zu müssen. Die Gedanken fließen wie von selbst in die Richtung momentaner, weltpolitischer Entwicklungen.

Zwischen den Szenen auf der schlicht-kantig-grau ausgestatteten Drehbühne (Peter Schmidt) werden dokumentarische Aufnahmen des Kriegsalltags zu minimalistischer, eindringlicher Schlagzeugmusik eingeblendet. Uwe Friedrichsen glänzt in seiner Rolle als einfühlsamer, persönlich betroffener Richter, der stellvertretend für den Zuschauer allen Fragen intensiv nachgeht. Emil Janning wird ebenfalls exzellent durch den zunächst stoisch schweigenden, dann die Wahrheit herausrufenden Wolf Aniol dargestellt. Das übrige, große Ensemble ist bis in kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt. Ein Theaterstück, das auch nach den drei Stunden der Aufführung zu vielen Gedanken anregt, z.B. über das Ideal des unverrückbaren, allgemeingültigen Völkerrechts und der desillusionierenden Einsicht, dass von Zeit zu Zeit wohl doch eher die jeweiligen politischen Ziele die Rechtauffassung formen.

Birgit Schmalmack vom 4.03.03