"4.48 Psychose"


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Innovative Regiearbeit

Zwei Gestalten hängen ineinander verhakt an einem Brett, das an Seilwinden von der Decke der großen Kampnagelhalle herunterbaumelt. Sie sind in einen weißen Endlosschlauch gesteckt, der ihre menschliche Form nur schemenhaft erkennen lässt, was auch an der schummerigen Dunkelheit in der Halle liegt. Dann knarrt die erste Winde und der erste Scheinwerfer beleuchtet die Szenerie. Die Gestalten lösen sich voneinander und das Brett bewegt sich nach oben, mit der einen Person, nun unschwer als Frau zu identifizieren, auf ihm festgeschnallt. Sie versucht sich aus ihren Fesseln zu winden, während die zweite, ebenfalls eine Frau, ihr am Boden in ihren Bewegungen folgt.

Regisseurin Chang Nai Wen hat zu Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose", das Kane kurz vor ihrem Selbstmord schrieb, einen ganz eigenen Zugang gefunden. Sie begegnet ihm, dem eindringlichen Textdrama nicht nur auf dieser Ebene. Sie versucht in ihrer Bühneninstallation auf Kampnagel, mit ihren schrägen Ebenen, Spiegel-Gerüsten und den schwebenden Brettern auch Bilder für die Situation der in ihrer Psychose Gefangenen (Iris Faber) zu finden. Sie gesellt ihr eine Tänzerin (Antje Velsinger) an die Seite, die ihr ein Gegenüber ist in ihren Dialogen mit ihrem Psychiater oder mit sich selbst. Sie bebildert dieses Gefangensein in ihren verschachtelten Gedankengebäuden mit dem Umherirren in der realen Halle. Verschlungen miteinander umgarnen sich in den beiden Frauen die beiden ihre kontrapodischen Anteile, die Hoffnung und die Depression, der Verstand und das Gefühl, die Liebe und die Angst.

Einen größeren Kontrast zu der Regiearbeit von Laurent Chétouane, die 2002 im Schauspielhaus gezeigt wurde, lässt sich kaum denken. Dort eine einzige Darstellerin, die ohne jede Dekoration im nackten Malersaal jedes Wort des Textes abtastet und -schreitet, hier eine bewegungs- und bildintensive Aufführung, die den Text als Gedankenanstöße in den Raum hineinsprechen ließ. Chang Nai Wen wollte mit ihrer Arbeit nicht nur den Verstand ansprechen, existenzielle Gefühle zu vermitteln war ihr genau so wichtig. Die intellektuelle Strahlkraft des Kanes-Textes kam auf diese Weise zwar nicht vollends zur Geltung, aber das wurde bei weitem durch die innovative Herangehensweise, die den Text auf neue Art erschließen half, ausgeglichen.

Birgit Schmalmack

Weibsstücke 2006


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Gelungene Weibsstücke im Thalia in der Gaußstraße

Die diesjährigen Regiearbeiten der ausschließlichen weiblichen Studentinnen des Studienganges Regie an der Theaterakademie Hamburg können als durchweg gelungen bezeichnet werden. Die Abende waren nicht zuletzt deswegen so spannend, weil sie ganz unterschiedliche Arbeitsansätze zeigten. Alle Inszenierungen hatten eine ganz eigene Handschrift.

Obwohl alle von hoher Professionalität zeugten, ragten einige Arbeiten besonders aus den sieben gezeigten Stücken heraus. Das beeindruckendste hatte einen besonders schlechten Startplatz bekommen. Es lief an zwei Abenden jeweils als letztes Stück kurz vor Mitternacht, nach fast fünf Stunden Theater. Trotzdem vermochte es mit Leichtigkeit zu fesseln. Mit "Satori Chicken" wagte Regisseurin Jette Steckel zu später Stunde die Frage nach der dem Sinn oder Unsinn von Religion zu stellen. Eine junge intelligente Frau (Bettina Kerl) versucht an der Universität Weisheit statt Wissen zu bekommen, doch sie findet keine Antworten auf ihre Fragen. Ernüchtert wendet sie sich der Religion zu. Das gefällt ihren ebenso geistreichen älteren Bruder (Wolfgang Menardi) gar nicht. Zusammen begeben sie sich auf den mühseligen Weg der Erkenntnis. Das grandiose Bühnenbild von Florian Lösche zeigt eine ansteigende Ebene, die wie eine Tafel beschichtet ist. Auf ihm können beim Abgleiten alle Fragen mit Kreide notiert und ausradiert werden. Die hervorragenden Schauspieler loten gekonnt jeden Ton ihrer Sisyphos-Arbeit aus. Die kettenrauchende Mutter (Verena Reichhardt) mit ihrem Patronenhalfter am Kleid, der statt mit Munition mit Zigaretten bestückt ist, ist ein kostümbildnerisches Highlight am Rande. Eine herausragende Inszenierung, der man noch mehr Aufführungsmöglichkeiten wünscht.

Eine weitere runde Arbeit ist "Z." in der Regie von Nino Haratischwili. Eine Frau (Nadine Nollau) und ein Mann (Jacob Weigert) sind zusammen in einem Unigebäude eingeschlossen worden und müssen eine Nacht zusammen verbringen. Wie sich dabei auf die Nerven gehen, langsam auf die Pelle rücken und immer intimer werden, ist ein tiefgründiges Kabinettstückchen, das kaum eine Frage unberührt lässt. Identität, Glück, Liebe, Sex, Wünsche, Träume und Ernüchterung - alles wird im Laufe der langen Nacht zum Thema.

Erwähnen muss man außerdem das letzte Stück am zweiten Abend: "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" nach Kaurismäki in der Regie von Julia Hölscher. Eine sehr ungewöhnliche Arbeit mit dem Mut zu einer provozierenden Form. Über weite Strecken wird ganz auf Worte verzichtet. Die Regisseurin lässt ihre Darsteller durch sparsame Bewegungen und Geräusche Stimmungen erzeugen und Geschichten erzählen. Das gelingt größtenteils, war wohl aber manchem Zuschauer zu der späten Uhrzeit zu anstrengend. Die die blieben, belohnten die Leistung mit viel Applaus.

Birgit Schmalmack vom 26.2.06